Reich durch Hartz IV
sitzen in der Kneipe, diskutieren über die Weltlage und die Regierung, auch über den Reformstau und das Debakel um den Berliner Flughafen. Und im Bundestag zerbricht man sich gerade den Kopf über die Arbeit, die »auswandert« …
Armut: ein politischer Kampfbegriff
Mama, sind wir arm? könnte die Überschrift dieses Kapitels auch lauten. Eine oft gehörte Frage. Doch welche Antwort bekommen Kinder von ihren Eltern, wenn sie das wissen wollen?
Regelmäßig wird die deutsche Öffentlichkeit von Armutsberichten aufgeschreckt. Empört wird dann stets gefragt, wie es denn angehen könnte, dass »mitten im reichen Deutschland« Menschen in Armut lebten. Aber was heißt das eigentlich, arm sein? Wir kennen aus der Tagesschau Bilder aus Afrika, Asien oder auch aus den Armenhäusern Osteuropas, auf denen ausgemergelte Kinder um etwas Essbares betteln. Sie tragen abgerissene Kleidung, leben auf der Straße, sind drogenabhängig und nicht selten todkrank. Was aber heißt Armut in Deutschland? Und seit wann wird überhaupt in einem der reichsten Länder der Welt über Armut diskutiert?
Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, präsentierte der Öffentlichkeit zum Jahresende 2012 eine erschütternde Botschaft: Noch nie habe es in Deutschland so viel Armut gegeben wie heute. Der Zuschauer der Tagesschau, der mit dieser Nachricht in der Vorweihnachtszeit konfrontiert wurde, rieb sich verwundert die Augen: Waren da nicht gerade Bilder von Massen in Einkaufszentren über den Bildschirm geflimmert, bepackt mit Kartons und Tüten, auf der Suche nach einem passenden Weihnachtsgeschenk? Bilder von überfüllten Weihnachtsmärkten, Glühweinständen und Schildern, auf denen Stellen für Aushilfen und Hilfskräfte angeboten wurden?
Ulrich Schneiders Botschaft ist keineswegs uneigennützig. Walter Wüllenweber bezeichnet den Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands richtig als »Cheflobbyist der Armutsszene«. Die finanziere Heerscharen von Betreuern und Kümmerern, die natürlich nie fänden, dass die von ihnen Betreuten irgendwann auf eigenen Füßen stehen könnten.
Ich hatte mehrmals Gelegenheit, mit Ulrich Schneider in einer Talkshow zu sitzen. Stets gab er sich als Rächer der Enterbten, berichtete mit bebender Stimme und empörtem Tremolo über flächendeckende Armut in Deutschland, was am Jahresende 2012 in seiner Feststellung gipfelte: »Deutschland stinkt vor Geld.« Das bedeutet für Schneider: »Umverteilen!« In einem Interview mit der Welt Ende 2012 befand er unverblümt: »Die Reserven sind so groß, dass wir – ohne dass irgendein Mensch in Deutschland das auch nur merken müsste – diese Ausgaben [zur Bekämpfung der Armut, Anm. d. A.] finanzieren könnten, zum Beispiel durch eine Erhöhung der effektiven Erbschaftsteuer. Wir könnten die Vermögensteuer wieder aktivieren. Das wäre alles vollkommen harmlos.«
Auf die Frage der Journalisten Andrea Seibel und Henryk M. Broder von der Welt , ob seine Vorschläge nicht auf ein System hinausliefen wie die legendäre Treberhilfe in Berlin, wo sich 300 Sozialarbeiter um 3000 Obdachlose kümmerten, also nicht die Obdachlosen von den Sozialarbeitern versorgt wurden, sondern genau umgekehrt, die Obdachlosen die Sozialarbeiter mit Arbeit versorgten, räumt sogar Schneider ein: »Es gibt einzelne Bereiche, darunter fällt allerdings nicht die Obdachlosenarbeit, wo in der Tat ein Interesse handlungsanleitend werden kann, dass man seinen Arbeitsplatz erhalten will.« Genau das aber ist der Punkt: Wenn ich meinen Arbeitsplatz als Sozialarbeiter erhalten will, brauche ich Arme, Bedürftige, Hilflose, Opfer.
Nun könnte man denken, Ulrich Schneider sei ehrenamtlicher Suppenküchenkoch, der in seiner Freizeit den »Armen« hilft. So ist es aber keineswegs. Auch Ulrich Schneider hat Interessen, nämlich seine »Armenindustrie« am Laufen zu halten. Er vertritt einen Verband von 10 000 rechtlich eigenständigen Organisationen mit über einer halben Million Beschäftigten. Sollen diese weiter beschäftigt bleiben, so muss der Öffentlichkeit unbedingt klargemacht werden, dass es »mitten im reichen Deutschland« eine Heerschar von Armen gebe, die unbedingt stetiger Fürsorge bedürfe, und das selbstverständlich nicht für Gottes Lohn.
Dafür musste Ulrich Schneider erst mal mit seinen Lobbyisten den Armutsbegriff dauerhaft im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankern. Das – ein echter Scoop – gelang ihm auch, wie er zunächst in
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