Reich durch Hartz IV
verlaufen. Länder wie Ungarn oder Tschechien sind dem Ideal der Armutsforscher bedeutend näher: Die niedrigste Armutsgefährdungsquote ist nämlich dann erreicht, wenn alle nichts haben. Dann ist keiner mehr arm.« So kommt Walter Wüllenweber zum selben Schluss wie die Politikwissenschaftlerin Dagmar Schulze-Heuling. Der Begriff Armut ist untauglich, um reale Lebenswirklichkeit zu beschreiben. Denn »Armut« ist keine objektive Maßeinheit. Sie ist wie fast alles eine Frage der Definition: Und da gibt es schon mal die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Der ehemalige Präsident der Weltbank , Robert McNamara , hat 1974 in Nairobi, um die Lage von Entwicklungsländern zu beschreiben, den Begriff der absoluten Armut eingeführt. Er definierte »absolute Armut« folgendermaßen: »Absolute Armut ist durch einen Zustand solch entwürdigender Lebensbedingungen wie Krankheit, Analphabetentum, Unterernährung und Verwahrlosung charakterisiert, dass die Opfer dieser Armut nicht einmal die grundlegendstem menschlichen Existenzbedürfnisse befriedigen können.« Nach Auskunft der Weltbank ist absolute Armut durch ein Einkommen von 1,25 Dollar pro Tag gekennzeichnet.
Dass es absolute Armut bei uns gibt, behaupten aber noch nicht mal Armutsforscher. Deshalb wird in Deutschland gerne von relativer Armut gesprochen. Aber auch da ist die Frage: wer definiert die? Es gibt Armutskonzepte, die 40, 50 oder 60 Prozent, einige sogar 70 Prozent des mittleren Einkommen als relative Armut ansehen. Es gibt unterschiedliche Definitionen von WHO, OECD und EU. Danach ist für WHO und OECD arm, wer weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Nach den Kriterien der Europäischen Union ist derjenige arm, der 60 Prozent oder weniger des Medianeinkommens zur Verfügung hat. Die Bundesregierung spricht von einer Armutsrisikoschwelle: Das sind 60 Prozent des gewichteten Durchschnittseinkommens. Das heißt im Klartext: Wenn ein Single ein Nettoeinkommen von 952 Euro hat, gilt er, nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes, als armutsgefährdet. Für ein Paar liegt die Armutsgefährdung bei einem gemeinsam Einkommen von 1428 Euro im Monat, bei einer Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1999,20 Euro. Da die meisten Menschen sich nicht in den Dschungel der Definitionen von Medianeinkommen, gewichtetem, mittlerem und durchschnittlichem Einkommen begeben und sich die wenigsten darüber klar werden, dass es sich um Einschätzungen handelt, die politisch und gesellschaftlich motiviert sind, eignet sich der Schreckensbegriff »Armutsgefährdung« trefflich, um die Armutsmaschinerie am Laufen zu halten und die Soziallobby zu beschäftigen. »Die Hilfeindustrie«, stellte Walter Wüllenweber fest, »ist zur größten Branche der deutschen Volkswirtschaft geworden, mit zwei Millionen Beschäftigten.« Das sind mehr Menschen, als in der Autoindustrie, der Bau- und Stahlindustrie, im Bergbau, im Flugzeugbau, in der Fischerei- und der Stromwirtschaft zusammen beschäftigt sind. Sie ist in den vergangenen 15 Jahren sechs bis sieben Mal schneller gewachsen als die gesamte Wirtschaft und macht einen Umsatz zwischen 115 und 140 Milliarden Euro pro Jahr. Dieser Betrag kommt nicht aus Spenden Mildtätiger zusammen, sondern aus Steuermitteln. Jeder zweite Euro wandert in die Betreuungsindustrie. Dabei ist die Zahl der Arbeitslosen, der anziehenden Konjunktur sei Dank, in den letzten Jahren gesunken. Damit schrumpfte auch die Klientel der »Wohlfahrtsindustrie«. Doch dem lässt sich abhelfen, mag sich Ulrich Schneider gedacht haben, und zwar mit regelmäßigen Armutsberichten und Empfehlungen für flächendeckende Mindestlöhne, Erhöhung des Hartz-IV-Satzes, Mindestrente und Rücknahme der Reformen am Arbeitsmarkt. Wenn dann die Arbeitslosenzahlen erneut steigen sollten, ist die Welt für den Paritätischen Wohlfahrtsverband vermutlich wieder in Ordnung. »Denn wehe, die Opfer werden selbstständig, sind nicht mehr hilfebedürftig, dann verliere ich meinen Arbeitsplatz«, so wird gedacht. Was also ist die logische Folge? Man findet überall Opfer und weitet den Armutsbegriff immer mehr aus.
Unverdächtig, im Geschäft mit der Armut mitzumischen, ist Pastor Bernd Siggelkow. Seine Arche, das christliche Kinder- und Jugendwerk e.V. in Berlin-Hellersdorf, wo er eine Suppenküche aufgemacht hat und Kinderbetreuung anbietet, lebt von Spenden. Ich bin dort hingefahren, weil es heißt, dort könne man sehen, wozu Armut in
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