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Reich durch Hartz IV

Reich durch Hartz IV

Titel: Reich durch Hartz IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Knobel-Ulrich
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Kindergarten dorthin und bringen mit« was sie unbedingt zum Glücklichsein brauchen: ihre Lieblingspuppe.
    Die Mutter verbringt den Vormittag mit Nachbarn und Bekannten im Café. Von dort aus dirigiert sie per Handy nach der Schule ihre älteste Tochter herbei: Michaela, die Vierzehnjährige, kommt direkt zum Café, um die kleinste Schwester abzuholen und zusammen mit ihr in die Arche zu zuckeln. Die Küchenleute kennen die ganze Familie: Vater, Mutter, sechs Kinder. Arm? Keineswegs: Der Vater arbeitet bei der Stadtreinigung. Die Mutter hat seit der Geburt des jüngsten Kindes Erziehungsurlaub, aber kümmert sich kaum um die Kleine.
    Hier im Viertel kennt jeder jeden, und die Nachbarn wissen, dass Michaela oft noch einen Einkaufszettel oder die Hundeleine in die Hand gedrückt bekommt. Nie frage die Mutter, wie es in der Schule gewesen sei und ob Michaela damit klarkomme, ständig für die kleinen Geschwister verantwortlich zu sein. Am liebsten kämen die sechs Kinder auch noch am Wochenende, aber dann ist die Suppenküche geschlossen.
    Pastor Siggelkow kennt die Familienverhältnisse »seiner« Kinder. Ändern kann er sie nicht. Nur zuhören, Mut machen, unterstützen. Während die Kinder Essen bekommen und spielen, haben die Eltern jeden Tag dringende »Termine« mit Vera oder Barbara Salesch oder bekommen »Besuch« von Britt oder Alexander Hold. Viele Hellersdorfer schimpfen: manche Eltern würden ihre Kinder aus reiner Bequemlichkeit in die Arche schicken, denn wer sein Geld vernünftig einteile, komme auch damit aus. Und wer wolle, bekomme auch sein Leben geregelt.
    Kevin isst mit gesundem Appetit. Auch seine fünf Brüder und seine Schwester kommen in die Arche. Ihre Mutter ist alleinerziehend, hat gerade einen neuen Freund. Sie lebt von Hartz IV und erzählt, es sei schwer, einen Job zu bekommen, wenn man dem potenziellen Arbeitgeber erzähle, zu Hause seien sechs Kinder zu versorgen. In der Wohnung sieht es aus, als sei eine Bombe eingeschlagen: ein Fernsehapparat quakt unablässig, aus den Zimmern der Kinder dröhnt die Playstation, es piepen Gameboys, keine Bücher – nirgends. Auch keine Gesellschafts- oder Kartenspiele. Die Mutter trägt schwer atmend einen Wäschekorb durch das Chaos im Wohnzimmer. Wahrscheinlich hat sie Kleidergröße 56. Die Kinder bekommen selten Obst, meist gibt es Süßes auf die Hand.
    Erzähle ich von solchen Begegnungen in Talkshows, in die ich gelegentlich eingeladen werde, wird mir geradezu reflexartig vorgeworfen, ich würde Klischees bedienen. Mag sein, dass das, was ich immer wieder in Wohnungen wie der beschriebenen gesehen habe, Klischees sind. Aber sie stimmen. Leider. Die Wohnungen, deren Bewohner Kevin und Mendy, Jessica und Zoe-Jaqueline heißen und die in Berlin-Hellersdorf und Hamburg Mümmelmannsberg oder Steilshoop liegen, haben merkwürdige Ähnlichkeiten. Vergleichbar dem Altar in Kirchen hängt in jedem Wohnzimmer ein riesiger Flachbildschirmfernseher an der Wand. Davor ein großes wurstartiges Sofa. In den Zimmern der Kinder sind die Fernseher etwas kleiner. In der Küche stehen Batterien von Limo- und Colaflaschen, der Aschenbecher quillt über. Unter dem Wohnzimmertisch von Kevins Familie etwa guckt ein riesiger schwarzer Schnauzer hervor und bellt wütend. Arm ist die Familie nicht, jedenfalls nicht in ökonomischer Hinsicht.
    Kevins Mutter sieht das Angebot der Arche ganz praktisch: »Es entlastet das Budget, wenn ich nicht fünfmal in der Woche für so eine große Familie kochen muss.« Das ist aber nicht Sinn der Suppenküche, wohin Kosten »ausgelagert« werden, während für die Kinder in Form von Kindergeld und Hartz IV Geld eingenommen wird.
    Bernd Siggelkow ist nicht naiv. Er weiß, dass manche Familien ökonomisch betrachtet nicht arm sind. Er will aber nicht kontrollieren, wer zu Recht einen Teller Essen bekommt. Die Tür soll – solange es geht – für alle offen sein. Und so werden weiterhin alle Kinder einen Schlag Suppe bekommen, eine liebevolle Umarmung, Anteilnahme, Beständigkeit erfahren. Sie lieben den Pastor, der keine frommen Sprüche macht, Zeit hat für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und mit ihnen spielt. Für viele ist er der einzige wirklich zuverlässige Anker im Leben. Das Erste, wonach sie ihn damals fragten, als er kam, war: »Wie lange bleibst du?« Und da er ein frommer Mensch ist, will er den Kindern zeigen, was Zuverlässigkeit ist. Wenigstens in der Arche, in Siggelkows Suppenküche, finden sie Zuflucht. Im

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