Reich durch Hartz IV
Gegensatz zu dramatischen Presseberichten, wo so getan wird, als herrschten in Deutschland Zustände wie in Bangladesch oder Burundi, hungern die Kinder nicht: ihr Problem ist nicht Armut, sondern Verwahrlosung. Auch im reichen Hamburg ist das so. Zwischen Stadtteilen wie Steilshoop oder Osdorf und dem idyllischen Blankenese oder Klein Flottbek liegen nicht nur ein paar Kilometer, sondern Welten. Mithilfe von Spenden haben Hamburger in Mümmelmannsberg, inzwischen auch in Neuwiedenthal und in Kirchdorf-Süd einen Kindertreff, die sogenannten »Mittagskinder« gegründet. Laura ist sechs und kommt jeden Tag dorthin. Ihre Mutter arbeitet von vier Uhr morgens an als Putzfrau. Der Vater ist arbeitslos und mit Lauras Betreuung offenbar überfordert. Er mache ihr mittags immer eine Dose auf, erzählt sie. Auch Laura muss nicht hungern, ihr fehlt es an anderem. Am liebsten spielt sie bei den Mittagskindern mit einer Puppenstube, baut dort Möbel auf und sortiert die Familienmitglieder so, wie sie sich das wahrscheinlich auch für ihre reale Welt erträumt. Die Welt von Lauras Puppenhaus ist heil: Es gibt Eltern zum Spielen, ein aufgeräumtes Wohnzimmer, eine Torte auf dem Tisch, eine Familie, die sich darum versammelt.
Ich fahre zu Laura nach Hause und treffe dort ihren Vater. Der 54-jährige Fliesenleger ist seit zwei Jahren arbeitslos. Es ist Nachmittag, aber die Vorhänge sind noch zugezogen, das Bett, aus dem er offenbar gerade gekrabbelt ist, ist zerdrückt. Müll stapelt sich in der Küche, der Abwasch türmt sich im Waschbecken, der Aschenbecher quillt über, der Fernseher läuft.
Lauras Vater erzählt, ihm falle die Decke auf den Kopf. Aber mit Laura spielen oder für sie kochen, während seine Frau arbeitet, sei nicht sein Ding, sagt er. Er lebt von Hartz IV und Kindergeld, aber für DVDs und ein Sky-Abo reicht es. »Was machen Sie denn den ganzen Tag?«, will ich wissen. »Ach, ich sehe mir Videos an, drei bis vier am Tag.«
»Und kommen Sie da nicht irgendwann mal durcheinander, also kriegen Sie noch zusammen, wer wen umgebracht hat, wer wen liebt oder hasst, wer heiratet oder sich scheiden lässt?«
»Nein«, antwortet Lauras Vater. »Ich komme nicht durcheinander, aber ich kann mir die Filme ja auch immer wieder angucken. Manche sehe ich ein paar Mal hintereinander.«
»Und Laura? Könnten Sie nicht mit ihr mal Mensch, ärgere dich nicht spielen?«
»Och, Laura wird’s schon nicht langweilig«, zuckt er die Schultern. »Die hat doch auch einen eigenen DVD-Player, und ihre Schwester auch.«
Vielleicht sollten glühende Befürworter von Betreuungsgeld solche Verhältnisse mal betrachten. Jeder Euro, der an Lauras Vater überwiesen wird, wird in Zigaretten und noch mehr DVDs angelegt werden. Es gibt in der ganzen Wohnung kein einziges Gesellschaftsspiel. Laura guckte mich verständnislos an, als ich fragte, ob sie gern Memory oder Malefiz spiele. Auch Kinderbücher gibt es keine. Dafür kann Laura perfekt ihren eigenen DVD-Player bedienen. Wie man eine Kartoffel schält und kocht, ist ihr dagegen neu.
Ines Hinrichs, Erzieherin und Leiterin des Mittagstischs und Kindertreffs, ist ein fester Anker. Zuverlässig behält sie den Überblick und zeigt den Kindern, dass Essen nicht aus der Dose kommen muss. Sie weiß, dass Armut viele Gesichter hat, nicht nur Hunger oder Krankheit bedeutet. »Für mich ist ein Kind arm, um das sich keiner kümmert«, sagt Ines Hinrichs. »Und davon gibt es bei den Mittagskindern genug.« In der Regel bekommen diese zu Hause einen Euro zugesteckt, damit sie sich an der nächsten Imbissbude ein paar Pommes holen können. Gekocht wird zu Hause so gut wie nie, erzählen die Kinder.
Nach dem gemeinsamen Kochen und Essen holt Ines Hinrichs für die Kleinsten ein paar Bilderbücher hervor. Die Größeren versammeln sich in einer Ecke, kuscheln sich aneinander: Vorlesestunde. Auch das ist neu für die meisten Kinder, die herkommen. Es gibt Bücher, die Spaß machen, man lernt und erfährt etwas dabei, ohne dass es flimmert, jemand kreischt oder zappelt. Abends, bevor der Kindertreff schließt, gibt es noch warmen Tee und Obst. Ines Hinrichs weiß, dass der Kühlschrank zu Hause leer ist und nicht alle Eltern da sind. Um halb sieben zuckeln alle ab. Ich gehe mit, besuche Jaqueline, Kevin und Zoe-Jennifer zu Hause. Das Abendprogramm steht fest. Der »Hausaltar« steht an zentraler Stelle bereit. Die »Hausgötter« erscheinen auf Knopfdruck, die Flimmerkiste läuft. Ist eine Familie aus
Weitere Kostenlose Bücher