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Reich und tot

Reich und tot

Titel: Reich und tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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seines Urins in der Nase. Er war sicher, dass er sterben würde. Er kam hier nicht wieder heraus. Warum sollten sie zurückkommen? Warum Mitleid mit ihm haben? Er selbst hatte auch keins gehabt und keine von ihnen geschont. Nicht eine der Schlampen. Bis auf
sie.
Rufen würde er sowieso nicht. Nicht bitten, nicht betteln. Das würde er ihnen nicht gönnen.
    Er atmete so langsam, wie er nur konnte. Versuchte, jeden einzelnen Atemzug voll auszuschöpfen. Die Luft, die in seine Lungen drang, war heiß, schal, verdorben. »Leid   – Leidensunmaß.« Weiß der Teufel, woher er das hatte. Klang wie aus einem Gedicht. Wie etwas aus der Schule, aus einer Idiotenstunde, die er schnell wieder aus seinem Kopf ausgeblendet hatte. Oh, er musste so dringend pinkeln. Aber er wollte nicht in seiner Pisse sterben. Der Krieger lebte in der Gewissheit des Todes, er blickte ihm in jeder bewussten Sekunde ins Auge. So wurde Furchtlosigkeit geboren. Sie wollten, dass er noch durchhielt. Je größer der Schmerz, desto besser. Er wollte nicht in seiner Pisse sterben. Ihn in sich aufnahm. Das klang auch wie aus einem Gedicht. Er hatte keine Ahnung mehr. Wackelnd, sabbernd, tropfend. Nicht aufstehen. Nicht hinsetzen. Wenn er ans Meer denkt, greif an wie die Berge. Er musste in seiner Pisse sterben. Hinter jedes Leid geschleudert. Weiß der Teufel wohin. Gönn ihnen das nicht. Eine Frau, die alles herzeigt. Wenn er ans Meer denkt. Bald ist es vorbei.

28
    Chris Parr hatte Kevin Holland aus dem Präsidium abgeholt und war dann in den »Wynarth Arms« gefahren, um Wendy Pelham zu helfen, ihre Sachen wieder nach Hause zu schaffen. Kevin Holland sagte, das sei schon in Ordnung, nur keine Umstände, es gehe ihm gut. Das Leben ging schließlich weiter, oder? Er saß in der Küche, bis die Spurensicherung mit seinem Zimmer fertig war. Sobald sie weg waren, ging er die beiden Etagen hinauf unters Dach. Holland hatte das oberste Zimmer im Haus: ruhig, versteckt, abgewandt von der Welt. Jenny hatte so gerne auf Zehenspitzen vor dem ovalen Fenster gestanden, das oben in das Dach eingelassen war, und von dort auf die Straßen und Dächer gegenüber hinausgesehen.
    Allzu viel Durcheinander hatten sie gar nicht produziert. Obwohl sie die Hälfte seiner Kleidung mitgenommen zu haben schienen. Er hatte sogar ausziehen müssen, was er heute getragen hatte. Hemd und Hose hatten sie in Beutel gesteckt und ihm etwas ausgesucht, das er in der Zwischenzeit tragen sollte. Er drehte sich einen Joint und steckte Nick Drake in den C D-Spieler . ›Five Leaves Left‹. Jennys Lieblingsplatte. Vor Jahren hatte sie diese Songs geliebt und weiß Gott wie lange nicht mehr gehört. Und jetzt fand sie die Platte in seinerSammlung. Er streckte sich auf dem Bett aus, rauchte, hörte zu. Er wusste, er würde darüber hinwegkommen. Wieder zu Kräften kommen. Jetzt, wo Gus weg war. Jetzt, in diesem Moment, verspürte er fast so etwas wie Frieden. Aber ihm war heiß. Er hatte das Fenster weit geöffnet, doch es würde noch eine Weile dauern, bis der Raum so weit abgekühlt war, dass er ausruhen, die Augen schließen, vielleicht schlafen konnte.
    Er wäre auch heute gerne wieder hingefahren. Aber das kam nicht in Frage. Nicht nach dem, was geschehen war. Er hatte schon Glück genug gehabt, vorher nicht erwischt worden zu sein. Dieser Bulle: hatte wie ein Toter im Geräteschuppen gepennt. Dass er nicht laut geschnarcht hatte, war alles. Also war er vorbeigeschlichen, den Schlüssel zum Wintergarten fest in der Hand. Sie hatte ihm Schlüssel für alles gegeben. Nicht nur für die Türen draußen. Auch für den Swimmingpool und das Haus. Jetzt, zu spät, begriff er, warum. Es hatte ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben, zu wissen, dass sie da draußen einen potenziellen Retter hatte, einen Schutzengel, wenn sie mit ihm eingesperrt war.
    Einen Augenblick lang hatte er vor dem Wintergarten verharrt, bevor er hineingegangen war. Hatte zum Vollmond hinaufgesehen, der groß und leuchtend hinter den Bäumen hing. Die Luft drinnen roch nach Zitrone, feucht. Es machte ihm nichts. Es hätte heiß sein können wie in einem Ofen, und es hätte ihm trotzdem nichts ausgemacht.
Komm zu mir.
So klar wie eine Glocke hatte er ihre Stimme gehört. Während er mit Chris und Wendy zusammengesessen hatte. Während ihm Chris noch einen Whisky eingeschenkt hatte. Während Wendy gemeint hatte, er solle etwas essen.
Komm zu mir.
Und er war gekommen. Später, als die anderen ins Bett gegangenwaren, hatte er

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