Reich und tot
CDs gibt’s da
, und ihn und Wendy Pelham bei verschiedenen Gigs getroffen. Ja, Kevin Holland kannten sie auch. Aber nicht so gut.
»Englisch und Geschichte, Mark?«, sagte Kerr.
»Ja. Und?«
»Welche Geschichte? Alte? Moderne? Politische?«
»Ist alles Schwachsinn«, antwortete Jones. »Viel zu theoretisch. Nicht praktisch genug. Ich meine, hat nichts mit dem zu tun, was wirklich passiert.«
Jacobson zeigte ihnen eine Kopie des Ausdrucks, auf dem seine Login- und Logout-Details rot eingekreist waren.
»Geben Sie zu, dass das Ihre ... Ihre Benutzer-ID ist? Geben Sie zu, dass Sie zur angegebenen Zeit in das Netzwerk eingeloggt waren?«
»Ich nehme an, dass das meine ID ist, wenn Sie es sagen. Auswendig weiß ich sie nicht. Aber dass ich mich an einen bestimmten Tag im Januar erinnere, das können Sie nicht von mir erwarten.«
»Okay«, sagte Jacobson. »Nehmen wir nur mal an, dass die Daten stimmen. Was haben Sie da wohl gemacht, falls Sie eingeloggt waren?«
»Keine Ahnung. Höchstwahrscheinlich für’n Referat recherchiert. Im Internet. Im Januar haben wir, glaube ich, über die Folgen von 1968 geredet. Sie wissen schon, die Maigeschichten und so.«
Jacobson wusste – in der Rückschau jedenfalls. Zu der Zeit damals war es ihm allerdings eher so vorgekommen, als wollten da ein paar langhaarige Typen, die sich fürwas Besseres hielten, einen Sturm im Wasserglas veranstalten. Jetzt kam er auf die zentrale Frage.
»Die Website von Aktion & Widerstand. Haben Sie die für Ihre Recherchen besucht?«
Jones sah das Mädchen an, dann auf den Boden. Aber als er ihm antwortete, wich er Jacobsons Blick nicht aus.
»Nein. Sagt mir nichts, kenne ich nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Bestimmt. Nie davon gehört.«
Sie hatten Kerrs Wagen genommen, wie so oft. Auf der Rückfahrt meinte Jacobson, sie könnten es für heute auch gut sein lassen. Es gab eigentlich nichts mehr, was sie noch tun konnten, bevor sie nicht ein paar ernsthafte Ergebnisse von der Spurensicherung in Händen hielten. Besonders, was den Reifenabdruck hinter Mortimers Grundstück anging.
»Ich würde sagen, der Bursche lügt«, sagte Kerr.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Jacobson und kurbelte das Fenster ein Stück herunter. Er genoss die erste Abendkühle, die sich in die Luft geschlichen hatte.
Rein statistisch stand es nur eins zu zweihundertfünf, dass die E-Mail von Jones stammte. Aber seine Freundin hatte den Aushilfsjob in Gus Mortimers Büro angenommen, und Jones war persönlich mit Jenny Mortimers Liebhaber Kevin Holland und dessen Mitbewohnern bekannt. Wenn man diese Umstände mit einberechnete, sah die Sache schon ganz anders aus. Jacobson drehte das Fenster ein Stück weiter herunter, um noch mehr Frischluft hereinzulassen. Und weiter? Angenommen, Jones war tatsächlich die Quelle, die Mortimer für die Aufnahme in den Club der Menschenfeinde vorgeschlagen hatte: Was zum Teufel
bewies
das schon? Was besagte das für die beiden Morde?
27
Bald war er am Ende.
Over and out.
Jedes Zeitgefühl war ihm bereits abhandengekommen. Er konnte seit Stunden hier drin stecken oder erst seit Minuten. Er hatte keine Ahnung und glaubte schon, gar nicht mehr ganz bei sich zu sein. Hatte den Eindruck, dass ihm der Kopf hin und her rollte und Speichel aus seinem Mund sabberte. Was? Er musste in sich gehen. Oder über sich hinaus. Ein Krieger gewann den Kampf, indem er den Kampf transzendierte. Aber wie konnte er das hier transzendieren? Dieses Sich-nicht-Bewegen. Dieses Nicht-Sehen. Er bekam nur noch schwer Luft. Sein Atmen war von Panik durchsetzt. Es
gab
Luft, die Löcher sorgten dafür, aber das hieß nicht, dass Herz und Lunge nicht trotzdem versagten. Oder das Gehirn. Alles von ihm war jetzt Schmerz. Schmerz und Gefangensein. Kein Umdrehen. Kein Aufrichten. Kein Ausstrecken. Er versuchte, an
sie
zu denken. Er versuchte,
nicht
an sie zu denken. Das Mädchen. Julie. Sie war anders gewesen, oder? Anders als die anderen. Ganz anders. So wie sie ihn angelächelt, ihn in sich aufgenommen hatte. Er rieb sich die Hände, versuchte die Unterarme in Bewegung zu halten, damit sie sich nicht verkrampften. Das war die einzige wirkliche Bewegung, zu der er fähig war. Deshalb hatten sie seine Hände losgebunden. Da war er jetztsicher. Sie wollten, dass er länger durchhielt: Je länger es dauerte, desto besser. Je größer seine Schmerzen, desto besser. Er musste unbedingt pinkeln. Aber er wollte nicht zugepinkelt sterben, mit dem Gestank
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