Reich und tot
Meer. Denkt er ans Meer, greife an wie der Berg.
Er las bis ans Ende des Abschnitts, hörte dann auf und schloss das Buch. Es war Zeit weiterzuziehen. Er überlegte kurz, ob er das Buch mitgehen lassen sollte, entschied sich aber dagegen. Punkt eins: Er war nicht für einen Diebstahl gekleidet. Punkt zwei: Es sprach nichts dagegen, dass er den kleinen Ausflug hierher zu einer angenehmen Angewohnheit werden ließ. Dass er den großen Mann in Ruhe und Frieden konsultierte. Und dabei ein Auge auf Blondie hatte.
Die Künstlergesellschaft Crowby veranstaltete ihre Sommerausstellung in einem kleinen Ausstellungsraum links vom Haupteingang der Bibliothek. DC Aston tat so, als interessierte ihn ein Gemälde, das vom Kubismus ungefähr ebenso augenfällig inspiriert war wie ›Der verrückte Professor 2‹ vom ›Panzerkreuzer Potemkin‹. Ersah Johnson das Gebäude verlassen und folgte ihm in diskreter Entfernung. Johnson überquerte den Platz nach links und nahm die schmale Straße zwischen Parkhaus und Einkaufszentrum, die direkt zum Busbahnhof führte. DC Dennett hatte sich während der letzten halben Stunde auf dem Platz gesonnt. Jetzt übernahm er, und es sah so aus, als sollte es wieder nach Hause gehen. Aston sah zu, wie er um die Ecke verschwand. Er gönnte sich ebenfalls einen Moment Sonne und rief sich ein Taxi. Mit etwas Glück war er wieder in der Mill Street, noch bevor Johnsons – und Dennetts – Bus den Busbahnhof verließ.
Jacobson hatte gekocht bei seinem Anruf, hatte sich auf der Fahrt zurück ins Präsidium kein Stück beruhigt und kochte auch noch, als er an die Tür von Detective Chief Superintendent Chivers klopfte, nein: hämmerte.
Früher einmal wäre es ein kleines Wunder gewesen, Chivvy an einem Samstagnachmittag, an dem die Sonne warm auf den Golfplatz schien und das Bier an Loch neunzehn gut gekühlt war, im Büro vorzufinden. Aber je näher seine Pensionierung rückte, desto mehr schien Chivers sich im Präsidium herumzudrücken und den Leuten in die Quere zu kommen. Als erinnerte ihn das nahende Ende an das, was ihn ursprünglich einmal an dem Job angezogen hatte. Die Ankunft von Salter und die Beschattungsoperation schienen den Prozess zusätzlich zu befeuern.
Chivers war mal ein guter, solider Detective gewesen. So hatte er vor etwa zwanzig Jahren eine berüchtigte Mordserie aufgeklärt, die schlimmste in der Geschichte der Stadt. Doch leider hatten ihn die zehn Jahre an der Spitze des CID, soweit Jacobson es beurteilen konnte, zu einer bloßen Galionsfigur werden lassen, zu einem Mann, der hauptsächlich als Festaktredner und P R-Waffe funktionierte und dessen engste Verbindung zur tatsächlichen Ermittlungsschinderei darin bestand, sich vor Kameras und Mikrofonen in Szene zu setzen, um mögliche Zeugen zur Mithilfe zu bewegen oder, besser noch, eine Verhaftung bekanntzugeben.
Jacobson betrat das Büro, ohne auf eine Antwort zu warten. Chivers sah aus dem Fenster, die Hände tief in den Taschen vergraben.
»Frank! Wir haben gerade über Sie geredet.«
Jacobson ignorierte die Begrüßung. Wie er sah, war Greg Salter ebenfalls da, saß auf Chivers’ Stuhl und hackte etwas in Chivers’ Computer. Jacobson hätte mit einem »Hoffentlich nicht schlecht« reagieren oder sich ein respektvolles Grinsen abringen können. Aber er hatte nicht die Absicht, irgendwann zum Super aufzusteigen, hatte auch nicht im Traum daran gedacht, sich für die frei werdende Stelle des DCS zu bewerben, und so war es ihm völlig egal, was die beiden Bürohengste von ihm dachten.
»Sergeant Ince hat mir erklärt, dass Sie die Überwachungsaktion jetzt persönlich leiten, Sir.«
Chivers forderte alle seine leitenden Beamten auf, ihn beim Vornamen zu nennen. Es war eine inoffizielle Regel, die Jacobson gezielt missachtete. Vor Chivers’ Schreibtisch stand ein niedriger, gepolsterter Stuhl, auf den er sich jetzt sinken ließ.
»Ich komme gerade vom Haus von John und Linda Barnfield, und wenn mir meine Augen keinen Streich gespielt haben, scheint es in der Ecke des Waldes keinerlei Posten mehr zu geben.«
Salter wandte den Blick vom Bildschirm ab und hörte auf zu tippen. Chivers drehte sich vom Fenster weg und blickte in den Raum, als suchte er sehnsüchtig nach einem Publikum, das über die beiden Anwesenden hinausging.
»Ich leite sie in Zusammenarbeit mit Greg, Frank, um genau zu sein. Sie und Ihre Leute haben plötzlich alle Hände voll zu tun, und wir haben nach einer Möglichkeit gesucht, Greg
Weitere Kostenlose Bücher