Reich und tot
zuckte mit den Schultern und sah ihren Mann an.
»Drei oder vier Jahre«, antwortete Grant. »Es war alles sehr boulevardpresseartig, als sie ihn verließ – und uns, wie ich sagen muss. Mitten in der siebten Stunde, das ist nach irdischer Zeitrechnung etwa Viertel vor drei nachmittags, warf sie ein Lineal nach einer jungen Lady und marschierte geradewegs aus der Schule, um nie wieder dort gesehen zu werden. Offenbar fuhr sie nach Hause, packte und zog aus. Beruf und Beziehung waren mit einem Schlag beendet.«
»Und Eric Brown?«
Grant wedelte mit der Teetasse vor seiner Frau hin und her, die Jacobson ihre Zigarette reichte, damit sie ihrem Mann einen Schuss Whisky nachfüllen konnte. Ihre Augen hatten die stahlblaue Farbe, die alles sah und nichts verpasste.
»Eric schaltete für eine Weile auf Autopilot«, sagte Grant. »Im Sommer darauf kündigte er.«
»Aber Sie sind in Kontakt geblieben?«
»O ja. Von Zeit zu Zeit besucht er mich und spendiert mir ein Bier in der Lounge vom ›Riverside Hotel‹. Finanziell geht es ihm bestens, doch gelegentlich scheint er das Verlangen nach einer altmodischen Diskussion über Bücher zu verspüren. Vor vierzehn Tagen war er zuletzt hier, richtig, Mary?«
Mrs Grant nickte. »Ja. Kurz vor seiner Abfahrt.«
»Seiner Abfahrt?«, fragte Jacobson.
Grant nippte jetzt an seiner Tasse, statt einen kräftigen Schluck zu nehmen.
»Ja, Inspector. Habe ich das nicht erwähnt? Er ist irgendwo im Iberischen im Urlaub. Spanien, Portugal, ich fürchte, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, er ist vor nächster Woche nicht zurück.«
Nein, das hast du verdammt noch mal nicht erwähnt, dachte Jacobson genervt.
»Jennys Mann, Gus Mortimer, haben Sie, wie ich annehme, nicht persönlich kennengelernt?«
»Mit der Annahme liegen Sie richtig, Inspector«, sagte Grant. »Ich habe keine Ahnung, wer er ist.«
Jacobson dankte den beiden für die Zeit, die sie sich genommen hatten, und versuchte, gegen seinen ganz und gar ungerechtfertigten Ärger anzukämpfen. Die Leute fuhren nun mal im August in Urlaub. In Frankreich waren praktisch alle im Urlaub, und er selbst war ja auch gerade erst zurück. Wobei Brown sowieso seit fünf Jahren aus Jenny Mortimers Leben verschwunden war. Seine Aussage war aller Voraussicht nach kaum von Bedeutung. Als er wieder im Auto saß, überprüfte Jacobson seinen Pager, aber es lag nichts Wichtiges vor. Er öffnete die Fenster und fuhr mit Zigarette im Mund los, bog in den Riverside Crescent und nahm die zweite links, die Riverside Avenue.
Von der Straße aus gesehen, schien sich nichts im Haus der Barnfields zu bewegen. Im Garten war niemand zu sehen, die Einfahrt war leer. Jacobson fuhr am Haus vorbei, parkte ein Stück weiter und ging die Straße auf der einen Seite hinunter und auf der anderen wieder herauf, dann das Ganze noch einmal in entgegengesetzter Richtung. Als er zurück zu seinem Auto kam, holte er sein Handy hervor, wählte ... und kochte.
Ein gutes Dutzend Autos parkte zu beiden Seiten der Straße, aber in keinem von ihnen saß jemand. Keines davon war ein Überwachungsfahrzeug der Polizei.
8
Die Abteilung mit den Nachschlagewerken war im zweiten Stock der Stadtbibliothek untergebracht. Mit seinen billigen Turnschuhen, der noch billigeren Jogginghose und dem nachgemachten Nike- T-Shirt wirkte der einst so berüchtigte, medienbekannte Kriecher von Crowby völlig unscheinbar und suchte sich einen ruhigen Tisch weit entfernt von allen anderen Lesern. Endlich hielt Robert Johnson den geheiligten Text wieder in der Hand. Bedächtig öffnete er das Buch und schlug die Seiten mit jener Ehrfurcht um, die aus dem Martyrium geboren wurde.
Als sie im Knast kapiert hatten, was ihm das Buch bedeutete, hatten sie sein Exemplar verbrannt. Als er sich ein zweites besorgt hatte, pinkelten sie darauf und zwangen ihn, ein paar Seiten zu essen, bevor sie es verbrannten. Danach hatte er sich nicht wieder um eins bemüht. Große Teile kannte er sowieso auswendig. Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, hatte er sie leise rezitiert, und jetzt saß er hier und sah die Worte erneut vor sich.
Miyamoto Musashi, den Japanern als Kensei, der »Schwertheilige« bekannt, hatte seinen ersten Gegner im Alter von dreizehn Jahren erledigt. Im Laufe seiner Karriere brachte er sechzig Männer im Zweikampf um. Oft gewann er nur mit einem hölzernen Stecken gegen mit Schwertern bewaffnete Gegner. Er lehrte, dass ein Mann,der seine Kunst wirklich verstand, zehn Gegner zu
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