Reid 2 Die ungehorsame Braut
teilzunehmen.
»Und du?«, fragte Ophelia sie. »Warum bist du heute hierhergekommen?«
»Ich war neugierig«, lautete die genäselte Antwort. »Wollte wissen, warum man mich bestochen hat. Jetzt weiß ich es. Du bist zu hübsch, um Freunde zu haben.«
Das genügte Ophelia, die kaum noch Herrin ihrer Tränen war. Damit die anderen nicht sahen, wie niedergeschmettert sie war, schrie sie, so laut sie nur konnte: »Raus mit euch. Raus mit euch allen.«
* * *
Ophelia hatte seit jenem Tag ein gespaltenes Verhältnis zu Menschen, die sich damit brüsteten, ihre Freunde zu sein. Sie stellte jeden und alles infrage, vermutete überall Lügen und Intrigen. Das war auch der Grund, warum sie irgendwann dazu übergegangen war, sich ebenfalls der Unwahrheit zu bedienen.
Wie das Schicksal es wollte, war sie im Lauf der Jahre dem einen oder anderen Gast des verheerenden Geburtstagsfestes noch einmal begegnet. Alle hatten sich ausnahmslos bei ihr entschuldigt und ihr versichert, dass sie, wenn sie sie nur gekannt hätten, auch ohne Bestechung zu ihrem Fest gekommen wären. Ophelia hätte ihnen am liebsten laut ins Gesicht gelacht.
Seit jenem verhängnisvollen Tag sah Ophelia ihren Vater in einem völlig neuen Licht. Einst hatte sie nichts als Bewunderung für ihn gehegt. Doch die Erkenntnis, dass er sie nicht liebte, sondern lediglich als Mittel zum Zweck sah, um die soziale Leiter emporzuklettern, hatte ihr das Herz aus der Brust gerissen und die leere Stelle mit tiefster Verbitterung gefüllt.
Doch all das spielte am heutigen Tag keine Rolle mehr - und das hatte sie einzig Rafe zu verdanken. Als ihr aufging, dass sie ihn in Gedanken bereits Rafe nannte, zuckte sie zusammen und wandte sich wieder der Tischgesellschaft zu.
Amanda zog noch immer ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und setzte alles daran, sie zu ignorieren. Im Gegensatz zu Rafe. Immer wieder sah er zu ihr herüber. Er gab sich größte Mühe, dem gemeinsamen Essen eine gewisse Normalität zu verleihen, indem er sich mit seiner Tante unterhielt. Nach einigen Versuchen, seine Schwester in das Gespräch einzubinden, gab Raphael auf, weil er nichts als düstere Blicke erntete.
»Ich glaube, mir gelüstet es morgen nach einem Spaziergang durch den Schnee, jetzt, wo meine früheren Spuren wieder überdeckt sind«, sagte Ophelia in die gerade entstandene Stille hinein und fügte grinsend hinzu: »Lust auf eine weitere Schneeballschlacht, Rafe?«
Raphael lachte. »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich die Schlacht gewonnen.«
»Das sehe ich anders«, antwortete Ophelia und musste kichern. »Wie wäre es, wenn wir uns auf ein Unentschieden einigen?«
Das war Amanda anscheinend ein wenig zu viel der Vertrautheit zwischen ihrem geliebten Bruder und der gefürchteten Konkurrentin. Wutentbrannt sprang sie auf und fuhr Ophelia an: »Ich warne Sie, versuchen Sie ja nicht, meinen Bruder mit einem Trick in die Ehe zu locken. Eine wie Sie würde unser Vater nämlich niemals akzeptieren.«
Ophelia errötete, so sehr erschütterte dieser Angriff sie.
Rafe ging es nicht anders. »Gütiger Gott, Mandy, was ist denn nur in dich gefahren? Ich schäme mich für dich.«
»Ich schließe mich Rafe an«, fügte Esmeralda hinzu.
»Wie bitte?«, protestierte Amanda mit weinerlicher Stimme. »Mag sein, dass ihre Schönheit dir nichts anhaben kann, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie es nicht auf dich abgesehen haben könnte. Merkst du denn gar nicht, wie sie dich mit ihren Blicken regelrecht verzehrt?«
»Ein derart unverschämtes Betragen ist unentschuldbar, und das weißt du auch«, tadelte Rafe sie. »Du entschuldigst dich auf der Stelle bei Ophelia.«
»Das werde ich nicht tun«, zischte Amanda. »Mach die Augen auf. Jemand musste es dir schließlich sagen.«
»Wenn du dich reden hören könntest!«
Mit purpurroten Wangen schleuderte Amanda die Serviette auf den Tisch. »Ich werde nicht hier herumsitzen und tatenlos zusehen, wie du zur Schlachtbank geführt wirst. Du weißt ja, wo du mich finden kannst, wenn du mit der Zeitverschwendung fertig bist, aus der du mir gegenüber ein so großes Geheimnis machst. Ferner werde ich mich bei dir entschuldigen, sobald du wieder bei Sinnen bist, aber ich werde mich nie, niemals bei ihr entschuldigen! Und wehe, du wagst es, eine Entschuldigung in meinem Namen auszusprechen!«, fügte sie auf dem Weg zur Tür noch hinzu.
Amanda schien ihren Bruder ziemlich gut zu kennen, denn er hob an: »Es tut mir leid,
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