Reid 2 Die ungehorsame Braut
beabsichtigt. Es wäre also das Beste, wenn sie nicht erführe, dass Sie lieber in London statt hier wären.«
Doch das war nicht der Grund dafür, warum Ophelia sich entschied, nicht an Amanda heranzutreten. Die Feindseligkeit, die während des Abendessens immer wieder an die Oberfläche gespült wurde, war schon eher ein Grund, wenn auch nicht die Hauptursache dafür, dass Ophelia sich bedeckt hielt. Augenscheinlich konnte das Mädchen sie nicht ausstehen. War sie eifersüchtig? Womöglich. Viele junge Frauen, denen Ophelia begegnete, reagierten auf ebendiese Art. Und deshalb würde Amanda sich, genau wie Mavis, zweifelsohne an ihrer misslichen Lage weiden, statt ihr zu helfen. Doch es gab noch einen anderen Grund, der schwerer wog.
Nein. Ophelia wollte gar nicht mehr unbedingt fort. Das, was sich in der Kutsche zugetragen hatte, hatte in ihr den Wunsch geschürt, an das unglaubliche Erlebnis noch einmal anzuknüpfen und die dazugehörigen Gefühle weitergehend zu erforschen. Was, wenn er recht behielt?
Wenn ihre ärgsten Charakterschwächen - ihr unkontrollierbares Temperament und ihre lächerliche Eifersucht - zutage traten, konnte sie nichts dagegen tun, dass sie andere und sich selbst verletzte. Selbst ihre Schuldgefühle vermochten diesen Teufelskreis nicht zu durchbrechen. Lag es daran, weil sie ihre Leidenschaft unter Verschluss hielt? Hatte Rafe womöglich mit seiner Theorie recht? Es klang so plausibel, dass sie dem nichts entgegenzusetzen hatte.
Seit ihrer intimen Begegnung, seit dem wundervollen Gefühl, das er ihr beschert hatte, ruhte sie in sich, wie sie es noch nie getan hatte. Ihr Hang zur Gehässigkeit war wie vom Erdboden verschluckt. Ihr war, als gäbe es nichts, was sie an diesem Abend aus der Ruhe bringen könnte. Selbst ihr ärgstes Grundgefühl, die Verbitterung, die sie seit Kindertagen begleitete, schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Angefangen hatte alles mit ihrem Vater. Ophelia hatte kaum laufen können, da hatte er damit begonnen, Pläne zu schmieden, wie sich aus einem solchen bemerkenswerten Kind am besten Kapital schlagen ließe. Bis zu jenem Tag, als sie herausgefunden hatte, dass alles, woran sie geglaubt hatte, nicht wahr war, hatte sie keinen blassen Schimmer gehabt. Die Erinnerung daran war so schmerzhaft, dass sie sie für gewöhnlich aus ihrem Leben ausklammerte. In Anbetracht ihrer derzeitigen Zufriedenheit, man konnte es fast schon Glückseligkeit nennen, brachte sie jedoch den Mut auf, dieser grässlichen Erinnerung ins Auge zu sehen.
* * *
Es trug sich an ihrem achten Geburtstag zu. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie aufgeregt sie war. Schließlich bedeuteten Geburtstage immer eine Menge Geschenke von ihren Freunden, und ihre Mutter richtete stets ein wundervolles Fest zu ihren Ehren aus. Wäre Ophelia im Speisezimmer geblieben, wo ihre Gäste Platz genommen hatten und zu Mittag aßen, wäre es ein Fest wie jedes andere gewesen. Wäre Ophelia doch nur nicht nach oben gelaufen, um das hübsche Medaillon zu holen, das sie von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen hatte. Sie brannte förmlich darauf, es den anderen Mädchen zu zeigen. Auf dem Weg nach oben vernahm sie die streitenden Stimmen ihrer Eltern, die aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters zu ihr drangen.
»So kann es unmöglich weitergehen«, sagte ihre Mutter soeben. »Du musst aufhören, ihr Freunde zu kaufen.«
»Wäre es dir lieber, ihr zu erklären, warum du nicht einmal eine Handvoll Gäste für ihre Geburtstagsfeier zusammenbekommst?«, erwiderte ihr Vater gereizt.
»Es war deine Liste«, erinnerte Mary ihn. »Ein Titel hochtrabender als der andere. Die eine Hälfte der Kinder ist von Neid zerfressen und wollte deshalb nichts mit Ophelia zu tun haben, und die andere Hälfte war noch nie zuvor bei uns. Wen wundert es da, dass sie die Einladung ausgeschlagen haben? Und die neue Liste, die du mir gegeben hast, ist auch nicht viel anders. Ophelia kennt diese Kinder doch gar nicht. Es wäre besser gewesen, ich hätte die Feier abgesagt. Sie muss doch ahnen, dass etwas nicht stimmt.«
»Unsinn. Das ist eine hervorragende Übung für sie. Warum bin ich nicht schon früher auf diese Idee gekommen? Rangniedrigere Titel einzuladen, wie du es vorhattest, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Von ihnen ist keiner für meine Tochter gut genug.«
»Aber das sind ihre wahren Freunde.«
»Wirklich? Oder kommen ihre Eltern womöglich einzig, weil sie sich bei mir lieb Kind machen wollen?«
»Nicht jeder
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