Reid 2 Die ungehorsame Braut
denkt wie du.«
»Natürlich tun sie das«, sagte Ophelias Vater höhnisch. »Es geht doch immer nur darum, mit wem man verkehrt und auf wen man Eindruck macht. Und wir sind in der glücklichen
Lage, ein Juwel zu besitzen, mit dem wir jeden beeindrucken können. Ihre Schönheit ist unbezahlbar, und sie wird von Jahr zu Jahr hübscher. Ich kann es selbst kaum glauben. Du warst schon schön, als ich dich zur Frau nahm, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir ein solch bemerkenswertes Kind in die Welt setzen.«
»Und ich habe mir nie träumen lassen, dass deine Gedanken ständig darum kreisen, wie wir von ihr profitieren können. Wieso kannst du sie nicht so lieben, wie ich es tue, und...«
»Sie lieben?«, schnaubte ihr Vater. »Kinder sind eine Plage, und Ophelia bildet da keine Ausnahme. Lass dir eines gesagt sein: Wäre es nicht vonnöten, sie anderen vorzuführen, hätte ich sie längst auf eine entfernt gelegene Schule verbannt, statt teure Privatlehrer anzuheuern.«
»Und sie nicht bei jeder Feier, die ich gegeben habe, wie ein dressiertes Haustier vorgeführt«, antwortete ihre Mutter verbittert.
»Hör auf, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Du lebst doch nur für die Unterhaltung. Ich hingegen lebe dafür, wenn deine Gäste unsere Tochter ungläubig ansehen.« Ihr Vater lachte. »Hast du dir die neue Gästeliste, die ich dir gab, eigentlich mal genauer angesehen? Es gibt einen Jungen, der eines Tages zum Marquis avanciert. Sie könnte sein Interesse erregen.«
»Sie ist viel zu jung dafür. Um Gottes willen, warum kannst du sie nicht erst erwachsen werden lassen, bevor du einen Gemahl für sie einkaufst?«
Ophelia hatte jedes einzelne Wort gehört, doch der Schock saß viel zu tief, als dass sie hätte weinen können. Statt nach oben zu gehen, wie sie es geplant hatte, kehrte sie wie betäubt in das Speisezimmer zurück, wo all ihre Freunde an einer langen Tafel saßen. Freunde?
Sie wusste, dass die versammelten Kinder ihr fremd waren, hatte sich aber nichts dabei gedacht. Sie war schlicht und ergreif-fend davon ausgegangen, dass ihre wahren Freunde sich einfach nur ein wenig verspäteten. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass etwas nicht stimmte. Sie war es gewohnt, neue Kinder kennenzulernen, wenn sie mit ihren Eltern zum Essen kamen. Ihre Mutter lud jede Woche Unmengen von Gästen ein. Selbst wenn es keine Kinder gab, deren Bekanntschaft sie machen könnte, sollte sie mit in den Salon oder das Speisezimmer kommen oder wo auch immer die Erwachsenen sich versammelt hatten, woraufhin sie ihnen dann vorgestellt wurde...
Neben einem Jungen, der einige Jahre älter war als sie und lustlos auf seinem Stuhl saß, blieb sie stehen. »Warum bist du heute hier?«, fragte sie ihn, ohne lange um den heißen Brei herumzureden.
»Es ist ein Fest. Für gewöhnlich mag ich Feste«, antwortete er gereizt.
»Aber dieses gefällt dir nicht«, schlussfolgerte sie, weil er sich bisher mit niemandem unterhalten hatte.
Er zuckte mit den Schultern und sagte rundheraus: »Sie meinten, wenn ich herkäme und so täte, als könnte ich dich leiden, würde ich ein neues Pferd bekommen. Mein jetziges wird langsam alt. Mein Vater will mir kein neues kaufen, meinte aber, dass dein Vater es für mich kaufen würde, wenn ich heute so tue, als hätte ich Spaß.«
Ophelias Hals zog sich schmerzhaft zusammen, als sie antwortete. »Sieht aus, als möchtest du doch nicht so dringend ein neues Pferd.«
»Natürlich will ich das!«
»Dann hättest du dir mehr Mühe geben müssen.«
Er warf ihr einen funkelnden Blick zu. »Wenn das so ist, kann ich auch wieder gehen.«
»Das sehe ich auch so«, stimmte sie ihm zu und wandte sich seinem Nachbarn zu, der ungefähr in ihrem Alter war. »Warum bist du hier?«
Während der erste Junge sich bereits auf dem Weg zur Tür befand, antwortete dieser nicht weniger offen: »Dein Vater hat meinem zwanzig Pfund bezahlt, damit ich komme. Ehrlich gesagt wäre ich jetzt lieber im Park, um mein neues Boot auszuprobieren.«
»Da bist du nicht der Einzige«, antwortete Ophelia mit kraftloser Stimme.
Tränen brannten ihr unter den Lidern, und ein dicker Kloß formte sich in ihrem Hals. Das Sprechen fiel ihr zunehmend schwerer. Ein eigenartiger Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus.
Dann fiel ihr Blick auf ein unscheinbares Mädchen auf der anderen Seite des Tisches, das älter als alle anderen war. Fast schon zu alt, um an der Geburtstagsfeier einer Achtjährigen
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