Reif für die Insel
noch keine Problemzonen gab, aber das macht nichts. Eine Schirmmütze hat sie vor vierzig Jahren auch nicht getragen. Aber immerhin – ihre Vorliebe für die Farbe Blau ist erhalten geblieben. Sogar ihre Geldbörse ist hellblau, die gerade in einer blauen Handtasche verschwindet. Paul hat das Gefühl, dass sein Glück himmelblau ist.
Er wird es schaffen! Dieser Satz wiederholt sich in seinem Kopf. Er ist drauf und dran, die Buchhandlung zu betreten, um nicht länger auf das Wiedersehen mit Sophia warten zu müssen. Aber er weiß, dass diese Begegnung keine Enge verträgt, dass sie Platz braucht, dass er die Arme ausbreiten möchte, von einem Ende der Friedrichstraße zur anderen.
Der Buchhändler tritt nun aus dem Laden, zwischen seinen Händen eine Papierfahne, die er strafft, so gut es geht. Aber besonders gut geht es nicht. Ein Windstoß beult sie, und als sie zurückfällt, zeigt sich, dass der Rückseite ein Kleber anhaftet. Eine hässliche Falte nimmt dem »Ausverkauft« das V.
|98| Paul springt hinzu. »Kann ich helfen?«
Der Buchhändler hält die beiden Enden der Papierfahne so weit wie möglich auseinander. »Wenn Sie diese Falte entfernen könnten?«
Paul versucht es, der Kleber ist jedoch stärker als er. Die Falte ist zwar bald verschwunden, aber der Riss macht die Sache nicht besser. Das V ist in zwei Teile zerfallen, nur seine Spitze hält die Papierfahne noch zusammen. Paul ist eben kein Mann für Notfälle. Woher aber sollte der Buchhändler das wissen?
Das dankbare Lächeln, das auf dem Gesicht des Mannes erschienen war, fällt in sich zusammen. »Können Sie mal das andere Ende nehmen?«
Sähe er das Leben in diesen Minuten nicht himmelblau, hätte er es nie versucht. Paul kennt seine Grenzen und neigt sonst nicht dazu, sich zu überschätzen. Aber jetzt, in diesem Augenblick, traut er sich alles zu. Er greift nach dem Ende der Papierfahne und hält es weisungsgemäß auf die rechte obere Ecke des Plakates, das die Davidson-Lesung ankündigt.
»Gut festhalten«, mahnt der Buchhändler, der die Papierfahne vorsichtig dehnt, damit das andere Ende auf die linke untere Ecke des Plakates geheftet werden kann, ohne dass das V komplett zerreißt.
Beinahe wäre es gelungen. Paul hat nur einen kurzen Blick zur Ladentür geworfen, um sich zu vergewissern, dass Sophia nicht unbemerkt den Laden verlässt. Der Buchhändler gibt einen warnenden Laut von sich, der Pauls Konzentration vielleicht zurückgeholt hätte. Jedenfalls dann, wenn sein Glück noch immer himmelblau gewesen wäre. |99| Aber es sinkt wie ein schweres Unwetter auf ihn herab. Genau wie die Papierfahne, die sich von der oberen rechten Ecke löst, sich mit aufreizender Gemütlichkeit auf Pauls Haupt sinken lässt und dabei eine Drehung vollführt, sodass die klebende Seite auf seinem Haar zu liegen kommt.
Paul nimmt nicht zur Kenntnis, dass ein paar Passanten über ihn lachen, und von dem Ärger des Buchhändlers bekommt er auch nichts mit. Er steht vor dem Schaufenster, blickt in den Laden und sieht zu, wie sein himmelblaues Glück stockfinster wird.
Der Buchhändler schluckt seinen Ärger herunter und versucht, die Papierfahne aus Pauls Haar zu lösen. Dabei geht sie endgültig zum Teufel. Pauls Frisur und der Hinweis »Ausverkauft« sowieso. Während der Buchhändler versucht, das »Ausrkaut« zu retten, wird Paul vierzig Jahre jünger. Wieder fühlt er sich so verloren wie in dem Augenblick, in dem Sophia über sein Gedicht lachte, und so nackt wie in den Stunden, bevor Werner ins Wachkoma fiel und zu einem Pflegefall wurde. Wie kommt Raffael Sielmann in die Buchhandlung? Und warum begrüßt er Sophia wie eine alte Bekannte?
6.
Verdammt! Warum hat Elena ihr Handy ausgeschaltet? Ich müsste dringend mit ihr reden! Wem soll ich sonst erzählen, dass ich auf dem besten Wege zu einem One-Night-Stand bin? So was kann man nur der besten Freundin anvertrauen. Okay, notfalls eben auch ihrer Mailbox.
|100| »Wer weiß, vielleicht wird sogar mehr aus der Sache zwischen Raffael Sielmann und mir. Ja, er ist verheiratet, aber dass eine Ehe nicht ewig dauern muss, weiß ich schließlich selbst am besten.
Warum ich mir plötzlich so sicher bin? Weil er mir nachgefahren ist. Ja, er ist mir nach Westerland gefolgt! Anders kann es nicht gewesen sein. Zwar hat er es nicht zugegeben, aber welche andere Möglichkeit sollte einem sonst einfallen? Er hat also Interesse an mir. Er wollte mit mir reden, ohne Gefahr zu laufen, von Johnny oder Tonia
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