Reif für die Insel
weitere quälende Jahre bestanden.
Eigentlich wollte er schräg gegenüber, in der Parfümerie, nach braunen Haaren Ausschau halten, die am Hinterkopf mit einer Spange zusammengehalten werden, aber Paul kann nicht anders. Er geht zu dem Punkt, an dem Raffael Sielmann gestanden hat, und sieht in dieselbe Richtung. Seine Augen erfassen den Eingang der Badebuchhandlung, die Ständer mit den Ansichtskarten davor, den Aufsteller mit dem neuesten Titel von David Davidson, die Plakate mit den Ankündigungen der Lesung an der Schaufensterscheibe – und im Verkaufsraum die Kasse, vor der sich |95| einige Kunden angestellt haben. Dahinter steht ein junger Mann, der einen gehetzten Blick in den hinteren Teil des Ladens wirft. Prompt löst sich von dort der Buchhändler und eilt seinem Mitarbeiter zur Hilfe. Er lässt eine Frau stehen, die zwei Bücher in der Hand hält. Eine Frau mit braunen Haaren, die unter einer hellblauen Schirmmütze verbogen sind. Nur Ponyfransen und ein paar Nackenhaare sind zu sehen.
Paul bemüht sich um ruhige Atmung, schöpft derart tief Luft, dass er das Gefühl hat, nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite zu wachsen. Er spannt die Zehenspitzen an, drückt die Fußballen herab, steht fest mit beiden Beinen auf der Erde. Ja, das ist der richtige Moment! Das Schicksal hat ihm mit dieser zweiten Chance einen Wink gegeben. Gleich wird Sophia bezahlt haben, aus der Badebuchhandlung herauskommen, und er wird sie ansprechen. »Sophia! Bist du es wirklich? Was für eine Überraschung! Nach so vielen Jahren! Und ausgerechnet hier auf Sylt!« Kein Gedicht, keine Nacktheit wird zwischen ihnen stehen.
Seine Füße lösen sich nur schwer von der Erde, Paul macht mühsam einen Schritt, dann noch einen – und bleibt wieder stehen. Noch einmal tief durchatmen! Und freuen! Freuen, dass sie ihm noch einmal begegnet! Freuen über das Glück, das er hat! Ein gutes Omen für alles andere, was er vorhat. Sein Plan wird gelingen! Endlich wächst in ihm die Sicherheit heran, die ihm bislang fehlte.
Die Füße lösen sich nun leichter, er schafft es bis zu dem Aufsteller, der David Davidsons Buchtitel trägt. Paul steckt |96| die Hände in die Hosentaschen, stellt den linken Fuß vor, dann den rechten, holt die Hände wieder heraus, streicht prüfend übers Haar, schiebt das Hemd ein Stück weiter in den Hosenbund, steckt die linke Hand in die Hosentasche zurück, hakt den rechten Daumen in eine Gürtelschlaufe. Beinahe hätte er gegrinst, weil er sich in diesem Augenblick so lässig vorkommt wie am Fenster des Zugabteils, als er Sophia damit imponierte, die Zigarettenkippe mit Daumen und Mittelfinger hinauszuschnippen.
In vollen Zügen genießt er die Ruhe, die sich nun in ihm ausbreitet. Sicherheit, Zuversicht! Wann hat er sich zum letzten Mal sicher und zuversichtlich gefühlt?
Er beobachtet, wie Sophia die Klappentexte der beiden Bücher liest, die sie sich ausgesucht hat. Schritt für Schritt schiebt sie sich voran, und als sie an der Reihe ist, schreckt sie auf. So vertieft war sie, dass sie nicht gemerkt hat, wie der breite Rücken des Mannes vor ihr verschwand. Sie lächelt entschuldigend, legt die Bücher auf den Tresen und zückt ihre Geldbörse. Geduldig sieht ihr der junge Mann an der Kasse beim Geldzählen zu. Der Buchhändler hat weniger Geduld. Er überlässt die Kunden, die vor der Kasse warten, wieder seinem Mitarbeiter und kümmert sich um sein Zeitschriftenangebot, das von einem nervösen Kunden in Unordnung gebracht worden ist.
Paul bestaunt Sophias Lächeln, das erwachsen geworden ist, ihre Bewegungen, die noch so jung sind wie damals, ihr Profil, das eine Menge Ernst und einen Teil Enttäuschung verrät, und ihre aufrechte Haltung, mit der sie damals ihren Minirock abwärts zog, weil sie anscheinend die Mahnungen |97| ihrer Mutter verinnerlicht hatte. In der gleichen Haltung zieht sie jetzt die Strickjacke herab, die ihre Problemzonen verdecken soll. Paul hätte nicht gedacht, dass ihn diese wunderbare Mischung aus dem, was immer bleiben wird, und dem, was sich verändern muss, glücklich machen könnte.
Sophias Sommerhose hat die gleiche Farbe wie die Hose, die sie vor vierzig Jahren auf dem Weg nach Sylt trug. Hellblaue Baumwolle mit aufgenähten Hippieblüten. Die Hose, die sie heute trägt, verrät den teuren Designer, aber hellblau ist sie auch. Paul lächelt, ohne es zu merken. Die weiße Jacke hat natürlich nichts mit dem knappen Pulli gemein, den Sophia damals trug, als es
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