Reif für die Insel
Farbschichten bedeckt, im übrigen aber unverändert. Der Blick hinaus zum Meer war ebenfalls derselbe, wenn auch das Wasser blauer und glitzriger war als damals. Doch ansonsten war kein Stein auf dem anderen geblieben. Dort, wo meiner Erinnerung nach eine elegante Reihe georgianischer Häuser stand, hockte nun ein riesiges, unansehnliches Backsteinmietshaus. Townhall Street, die Hauptstraße zum Westen, war breiter und verkehrsreicher, ja bedrohlicher, als ich mich entsann, und zum Zentrum, das auch nicht wiederzuerkennen war, führte nun eine Unterführung.
Die Haupteinkaufsstraße war in eine Fußgängerzone und der Marktplatz in eine Art Piazza verwandelt worden mit protziger Pflasterung und dem üblichen gußeisernen Schnickschnack. Das ganze Stadtzentrum schien von stark befahrenen, mehrspurigen Ausfallstraßen, an die ich mich überhaupt nicht erinnern konnte, regelrecht eingeklemmt, und es gab ein neues, großes Touristengebäude, das White Cliffs Experience hieß und wo man, schloß ich aus dem
Namen, entdecken konnte, wie man sich als 800 Millionen Jahre alte Kreide wohl fühlt. Ich erkannte nichts wieder. Was ja überhaupt das Problem mit englischen Städten ist. Sie sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Immer gibt es eine Boots-Drogerie und ein Marks & Spencer. Im Grunde könnte man überall sein.
Ich stapfte verstört durch die Straßen, unglücklich, daß mir ein Ort, der eine so wichtige Rolle in meinen Erinnerungen spielte, so fremd war. Als ich dann zum drittenmal grummelnd durchs Zentrum lief, stieß ich in einer schmalen Straße, von der ich geschworen hätte, sie noch nie gesehen zu haben, auf das Kino, das trotz künstlerisch aufwendiger Renovierung noch als Stätte des Frauentausch im Vorstadtgetto zu identifizieren war, und plötzlich war alles klar. Nun, da ich einen Bezugspunkt hatte, wußte ich genau, wo ich mich befand. Zielgerichtet schritt ich fünfhundert Meter nach Norden, dann nach Westen – jetzt hätte ich es mit verbundenen Augen gefunden – und stand direkt vor Mrs. Smegmas Etablissement. Es war immer noch eine Pension und sah bis auf einen Autostellplatz im Vorgarten und ein Plastikschild, das Farbfernseher und Zimmer mit Bad anpries, auch noch genauso aus. Ich überlegte, ob ich an die Tür klopfen sollte, aber das war Quatsch. Mrs. Smegma, der alte Dragoner, war sicher längst nicht mehr da – in Rente oder tot oder vielleicht in einem der vielen Seniorenheime, von denen es an der Südküste wimmelt. Mit dem modernen Zeitalter britischer Pensionen wäre sie nie zurechtgekommen, mit Zimmern mit Bad und der Möglichkeit, sich die Pizza ins Zimmer kommen zu lassen.
Wenn sie in einem Altersheim ist, was mir gewiß am liebsten wäre, hoffe ich doch sehr, daß die Angestellten dort so mitfühlend und vernünftig sind, sie recht häufig auszuzanken, weil sie die Klobrille vollgepülscht oder das Frühstück nicht aufgegessen hat und überhaupt hilflos und lästig ist. Das würde ihr sosehr helfen, sich zu Hause zu fühlen.
Von diesen Gedanken aufgeheitert, schlenderte ich durch die Folkstone Road zum Bahnhof und kaufte mir eine Fahrkarte für den nächsten Zug nach London.
Zweites Kapitel
Meine Güte, was ist London groß! Es kommt einem immer vor, als begänne es ungefähr zwanzig Minuten, nachdem man Dover verlassen hat, und dann zieht es sich Meile um Meile hin, endlose graue Vororte mit ihren Reihen- und Doppelhäusern, die vom Zug aus stets mehr oder weniger identisch aussehen, als seien sie aus einer dieser Maschinen gequetscht worden, mit denen man früher Würstchen fabrizierte. Wie, frage ich mich immer, finden die Bewohner jeden Abend in einer solch komplizierten und anonymen Stadtlandschaft den Weg zurück in die richtigen Kästen?
Also, ich würde es nie schaffen. Mir bleibt London ein riesiges, aufregendes Rätsel. Acht Jahre lang habe ich in oder bei London gelebt und gearbeitet, die Lokalnachrichten im Fernsehen angeschaut, die Abendzeitung gelesen, ausgiebig die Straßen durchstreift, um Hochzeiten oder Abschiedsparties zu besuchen oder auf hirnrissiger Suche nach Schnäppchen bei irgendwelchen Schrotthändlern jwd – und stelle immer noch fest, daß es ganze Teile gibt, die ich nicht nur noch nie besucht, sondern von denen ich nicht einmal gehört habe. Wenn ich den Evening Standard lese oder mit einem Bekannten plaudere, bin ich immer wieder perplex, wenn ein Bezirk erwähnt wird, der sich wahrhaftig seit einundzwanzig Jahren meiner
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