Reif für die Insel
der britischen Metropole in vielen wichtigen Dingen nicht das Wasser reichen. London hat mehr Geschichte, schönere Parks, eine lebendigere, vielfältigere Presse, bessere Theater, zahlreichere Orchester und Museen, grünere Plätze, sicherere Straßen und höflichere Einwohner als alle anderen großen Städte der Welt.
Und es hat mehr angenehme Kleinigkeiten – zufällige zivilisierte Gesten könnte man sie nennen – als jede andere Stadt, die ich kenne: fröhliche rote Briefkästen, Autofahrer, die an Zebrastreifen sogar anhalten, reizende, vergessene Kirchen mit noch reizenderen Namen wie St. Andrew by the Wardrobe und St. Giles Cripplegate, überraschend beschauliche kleine Ecken wie Lincoln’s Inn und den Red Lion Square, interessante Statuen ominöser Viktorianer in Togen, Pubs, schwarze Taxis, Doppeldeckerbusse, hilfsbereite Polizisten, Menschen, die einem beispringen, wenn man stürzt oder seine Einkaufstaschen fallen läßt, und überall Sitzbänke. Welche andere Stadt würde sich der Mühe unterziehen, blaue Plaketten an Häusern anzubringen, damit man erfährt, welche berühmte Persönlichkeit hier wohnte, oder würde einen ermahnen, einmal nach links und einmal nach rechts zu schauen, bevor man auf die Straße tritt. Ich sag’s Ihnen: keine.
Lassen Sie den Flughafen Heathrow, das Wetter und alle Gebäude außer acht, bei denen Richard Seifert seine knochigen Hände im Spiel hat, und es wäre fast perfekt. Ach, und da wir schon einmal dabei sind, könnten wir eigentlich auch das Personal des Britischen Museums bitten, den Vorhof nicht mehr mit seinen Autos zu verstopfen und ihn lieber in einen Garten zu verwandeln. Und die schrecklichen spanischen Reiter vor dem Buckingham Palast sollten auch weggeräumt werden, denn sie sehen so unordentlich und billig aus und beleidigen die Würde Ihrer armen, dort drinnen belagerten Majestät. Und natürlich muß das Naturgeschichtemuseum wieder so hergerichtet werden, wie es war, bevor sie daran herumgefummelt haben (vor allem müssen sie die Schaukästen wieder anbringen, in denen Schädlinge Haushaltsprodukte aus den Fünfzigern befallen), und überhaupt soll der Eintritt in allen Museen ab sofort wieder frei sein. Zum Schluß, aber absolut wichtig, muß man die Aufsichtsräte der britischen Telecom dazu zwingen, sich persönlich aufzumachen und jede (aber auch jede!) rote Telefonzelle aufzuspüren, die sie verscherbelt haben und die jetzt in den hintersten Ecken des Globus als Duschkabine oder Gartenschuppen dient. Dann erstrahlt London wieder in seiner alten Pracht!
Zum erstenmal seit Jahren war ich in der Stadt und hatte nichts Bestimmtes zu tun. Ich wurde richtiggehend ein bißchen nervös, weil ich Teil dieses großen, wuselnden urbanen Ganzen war und nicht gebraucht wurde. Ich stromerte durch Soho und über den Leicester Square, verbrachte ein wenig Zeit in den Buchläden auf der Charing Cross Road, wo ich ein paar Bücher so umräumte, daß meine eigenen besser zur Geltung kamen, ging ziellos durch Bloomsbury und zum Schluß hinüber zur Gray’s Inn Road, zum alten Times-Gebäude, in dem nun die Geschäftsräume einer mir völlig unbekannten Firma waren. Da empfand ich die stechende Wehmut, die nur die kennen, die sich an die Zeiten von heißem Blei und klackernden Setzmaschinen erinnern, sowie die klammheimliche Freude, ein hervorragendes Gehalt für eine Fünfundzwanzig-Stunden-Woche einzustreichen. Als ich 1981 bei der Times anfing, direkt nach der berühmten einjährigen Schließung, waren Personalüberhang und geringe Produktivität, gelinde gesagt, gewaltig. Im Ressort Unternehmensnachrichten, in dem ich als Redakteur wirkte, schlenderte das fünfköpfige Team gegen halb drei herein und verbrachte den restlichen Nachmittag mit Abendzeitunglesen, Teetrinken und Warten, daß die Reporter ihr anstrengendes Tagespensum schafften. Nach einem Dreistunden-Lunch mit etlichen Flaschen recht ordentlichem Châteauneuf du Pape mußten sie nämlich den Weg zurück zu ihren Schreibtischen finden, ihre Spesenabrechnung erstellen, sich über die Telefone hängen und im Flüsterton mit ihren Brokern den kleinen Tip besprechen, den sie bei der Crème brûlée aufgeschnappt hatten, und zu guter Letzt einen Artikel von einer Seite oder so produzieren, bevor sie sich völlig ausgedörrt in den Blue Lion auf der anderen Straßenseite zurückziehen konnten. Ab halb sechs widmeten wir uns etwa eine Stunde lang dem Redigieren, schlüpften dann in unsere Mäntel und
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