Reif für die Insel
Wellenbrecher ergoß sich endlos über das Meer. Es war alles wunderschön, aber mir war viel zu kalt, um es angemessen würdigen zu können. Zitternd stöberte ich in meinem Rucksack und angelte jeden potentiell wärmenden Gegenstand heraus, dessen ich habhaft werden konnte – ein Flanellhemd, zwei Pullover, eine weitere Jeans. Ich zog mir Wollsocken über die Hände und in meiner Verzweiflung eine Boxershorts als Kopfwärmer aufs Haupt, sank dann schwer zurück auf die Bank und wartete geduldig auf den süßen Kuß des Todes. Doch ich schlief wieder ein.
Dann erwachte ich abrupt vom Heulen eines Nebelhorns, das mich beinahe von meiner engen Bettstatt fegte, und setzte mich hin. Mir war hundeelend, aber ein Spur weniger kalt. Die Welt war in dieses milchige Licht vor der ersten Morgendämmerung getaucht, das aus dem Nichts zu kommen scheint. Möwen kreisten kreischend über dem Wasser. Hinter ihnen, jenseits der steinernen Wellenbrecher, glitt eine riesige, helleuchtende Fähre majestätisch aufs Meer hinaus. Eine Weile blieb ich sitzen, ein junger Mann mit mehr auf dem Kopf als darin. Erneut dröhnte und klagte das Nebelhorn des Schiffs übers Wasser und machte die dämlichen Möwen wieder ganz nervös. Ich zog meine Sockenhandschuhe aus und schaute auf die Uhr. Es war fünf Uhr fünfundfünfzig. Ich sah der sich entfernenden Fähre nach und fragte mich, wo wohl um diese Zeit Menschen hinwollten. Wo wollte ich um diese Zeit eigentlich hin? Ich nahm meinen Rucksack und schlurfte über die Promenade, um meinen Kreislauf in Gang zu bringen.
Beim Churchill, das nun seinerseits friedlich schlief, traf ich einen alten Knaben, der seinen Hund ausführte. Hektisch versuchte die Töle, auf jede erreichbare senkrechte Fläche zu pieseln, und wurde folglich weniger Gassi geführt als auf drei Beinen Gassi gezerrt.
Als ich zu den beiden aufschloß, nickte mir der Mann einen Guten-Morgen-Gruß zu. »Vielleicht wird’s schön«, verkündete er und starrte hoffnungsfroh zum Firmament, das aussah wie ein Stapel nasser Handtücher. Ich fragte ihn, ob eventuell irgendwo ein Restaurant geöffnet habe. Er kannte eins nicht weit weg und beschrieb mir den Weg dorthin. »Die beste Fernfahrerkneipe in Kent«, sagte er.
»Fernfahrerkneipe?« wiederholte ich unsicher, während ich ein paar Schritte zurückwich, weil mir auffiel, daß der Hund verzweifelt an der Leine zog, um mir die Hosen-beine anzufeuchten.
»Sehr beliebt bei LKW-Fahrern. Die kennen sowieso immer die besten Kneipen, was?« Er lächelte liebenswürdig, senkte dann die Stimme ein ganz kleines bißchen und beugte sich zu mir vor, als wolle er mit etwas streng Vertrauliches mitteilen. »Vielleicht sollten Sie die Unterhose besser abnehmen, bevor Sie dorthingehen.«
Ich griff mir an den Kopf – oh! – und zog mir errötend die Boxershorts ab. Während ich noch versuchte, mir eine kurze, treffende Erklärung auszudenken, schaute der Mann schon wieder prüfend gen Himmel.
Mit den Worten »Es klart definitiv auf« schleifte er den Hund auf der Suche nach neuen Senkrechten mit sich fort. Ich sah ihnen nach, drehte mich um und ging die Promenade entlang. Da begann es in Strömen zu gießen.
Die Kneipe war wunderbar – voller Leben und wohlig warm. Ich gönnte mir ein Frühstück mit Eiern, Bohnen, fetttriefendem Röstbrot, Speck und Würstchen, Brot, Margarine und zwei Tassen Tee. Alles für 22 Pence. Mit einem Zahnstocher und einem Rülpsen kam ich als neuer Mensch heraus, schlenderte glücklich durch die Straßen und beobachtete, wie Dover zum Leben erwachte. Leider sah die Stadt im Tageslicht nicht sehr viel besser aus, aber sie gefiel mir. Vor allem, daß sie so klein und gemütlich war und alle einander »Guten Morgen« sagten und »Hallo« und »schreckliches Wetter – aber vielleicht klart es auf«, und daß ein weiterer Tag in einer sehr langen Reihe rundherum heiterer, angenehm ereignisloser Tage vor mir lag. In ganz Dover würde niemand einen besonderen Grund haben, sich an den 21. März 1973 zu erinnern – außer mir und einer Handvoll Kindern, die an dem Tag geboren wurden, und vielleicht einem alten Knaben, der seinen Hund spazierengeführt und einen jungen Burschen mit Unterhosen auf dem Kopf getroffen hatte.
Weil ich nicht wußte, wie früh man in England nach einem Zimmer fragen konnte, beschloß ich, es noch aufzuschieben beziehungsweise die Zeit zu nutzen, mir eine Pension zu suchen, die sauber und ruhig, aber auch freundlich und nicht zu teuer
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