Reif für die Insel
Großbritannien ein anderes Land. Das Pfund war 2,46 Dollar wert. Der durchschnittliche Nettowochenlohn betrug 30,11 Pfund. Ein Tütchen Kartoffelchips kostete 5 Pence, eine Limonade oder Cola 8 Pence, ein Lippenstift 45 Pence, ein Päckchen Schoko-ladenkekse 12 Pence, ein Bügeleisen 4,50 Pfund, ein elektrischer Wasserkessel 7 Pfund, ein Schwarzweißfernseher 60 Pfund, ein Farbfernseher 300 Pfund, ein Radio 16 Pfund, ein normales Essen im Restaurant 1 Pfund. Ein Linienflug von New York nach London war im Winter für 87,45, im Sommer für 124,95 Pfund zu haben. Mit Cook’s Golden Wings Holiday konnte man in Teneriffa für 65 Pfund acht Tage und ab 93 Pfund zwei Wochen Urlaub machen. Das weiß ich alles, weil ich vor dieser Reise in die Times vom 20. März 1973 geschaut habe, dem Tag meiner Ankunft in Dover, und darin war eine ganzseitige Regierungsanzeige, die im einzelnen auflistete, wieviel diese Dinge kosteten und wie die in etwa einer Woche fällige neue Steuer namens Mehr-wertsteuer, VAT, sich darauf auswirken würde. Im Kern besagte die Anzeige, daß ein paar Sachen mit der VAT teurer würden, ein paar aber auch billiger. (Harr, harr!) Wenn ich selbst mein nachlassendes Gedächtnis anstrenge, fallt mir ein, daß eine Ansichtskarte nach Amerika per Luftpost 4 Pence, ein Pint Bier 13 Pence und das erste Penguin-Buch, das ich mir je kaufte, 30 Pence kosteten. Die Umstellung auf das Dezimalsystem war gerade zwei Jahre zuvor erfolgt, doch in Gedanken rechneten die Leute immer noch um – »Mein Gott, das sind ja fast sechs Shilling!« –, und man mußte wissen, daß ein Sixpence eigentlich 2 1/2 Pence war und eine Guinee 1,05 Pfund.
Erstaunlich, wie viele Schlagzeilen dieser Woche genausogut heute erscheinen könnten: »Streik der französischen Fluglotsen«, »Ulster: Regierungsbericht fordert Machtteilung«, »Kernforschungslabor geschlossen«, »Sturm legt Bahnverkehr lahm« und der alte Cricket-Dauerbrenner »England bricht ein« (damals gegen Pakistan). Aber das markanteste sind die vielen Arbeitsunruhen: »Streikdrohung bei Britischen Gasversorgungsbetrieben«, »2000 öffentliche Bedienstete im Streik«, »Keine Londoner Ausgabe des Daily Mirror «, »10000 ausgesperrt nach Chrysler-Streik«, »1. Mai – Gewerkschaften planen Großkampftag«, »12000 Schüler haben frei, weil Lehrer streiken« – diese Überschriften stammen alle aus einer einzigen Woche. Es sollte das Jahr der Ölkrise werden, und obwohl die Parlamentswahlen erst im folgenden Februar stattfanden, wurde die Heath-Regierung praktisch damals schon gestürzt.
Noch bevor das Jahr zu Ende ging, wurde das Benzin rationiert, und vor den Tankstellen im ganzen Land bildeten, sich kilometerlange Schlangen. Die Inflation schnellte um 28 Prozent in die Höhe. Toilettenpapier, Zucker, Strom und Kohle wurden knapp. Die halbe Nation befand sich bald im Streik und der Rest auf Drei-Tage-Woche. Die Leute kauften ihre Weihnachtsgeschenke in kerzenbeleuchteten Kaufhäusern und mußten voller Bestürzung erleben, wie ihre Fernsehschirme auf Regierungsanweisung nach den Zehn-Uhr-Abendnach-richten schwarz wurden. Es war das Jahr der Nordirland-Vereinbarungen von Sunningdale, der Summerland-Brandkatastrophe auf der Insel Man und der Kontroverse, ob auch Sikhs Motorradhelme tragen mußten. Und Martina Navratilova debütierte in Wimbledon. Außerdem trat Großbritannien der EG bei und zog – unglaublich! – gegen Island in den Kabeljau-Krieg.
Kurz und gut, es sollte eins der außergewöhnlichsten Jahre in der modernen englischen Geschichte werden. Das wußte ich natürlich an diesem nieseligen Märzmorgen in Dover nicht. Eigentlich wußte ich überhaupt nichts, ein seltsam wunderbarer Zustand. Alles vor mir Liegende war neu und geheimnisvoll und so aufregend, daß Sie es sich gar nicht vorstellen können. England war voller Worte, die ich noch nie gehört hatte – durchwachsener Speck hieß »streaky bacon«, man ließ sich beim Friseur »short back and sides« verpassen, es gab »high tea« und »ice-cream cornets«. Ich hatte keine Ahnung, wie »Scone« oder »Towcester« ausgesprochen wurden, und kannte weder Perthshire noch Denbighshire, keine Weihnachtsknallbonbons, »council houses«, »bank holidays« und keinen Volkstrauertag »Poppy Day«. Ich ahnte nicht, daß Milchwagen »milk floats« hießen, »trunk calls« Ferngespräche waren und man »seaside rock« essen konnte. Wenn ein Auto ein Schild mit einem »L« hinten drauf hatte, hätte ich glatt
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