Reif für die Insel
– das wahre Geheimnis ihres Glücks – sie konnten sich, wann immer sie wollten, in die Hütte zurückziehen, dort ein kleines bißchen weniger frieren, sich eine Tasse Tee brühen und – Gipfel der Verwe-genheit! – einen Schokoladenvollkornkeks knabbern. Danach winkte ihnen noch eine glückliche halbe Stunde, wenn sie nämlich ihre Siebensachen wegpacken und die Luken dichtmachen mußten. Und mehr brauchten sie nicht in diesem Leben, um in einen Zustand fast vollkommener Verzückung zu geraten.
Die Briten sind ja unter anderem deshalb so bezaubernd, weil sie keine Ahnung von ihren eigenen Tugenden haben, und das gilt besonders für ihr Glücksempfinden. Sie lachen bestimmt, wenn ich das sage, aber die Briten sind das glücklichste Volk der Erde. Ehrlich. Beobachten sie einfach mal, wie sich zwei Briten unterhalten, und passen Sie auf, wie lange es dauert, bis sie lächeln oder über einen Scherz oder eine nette Bemerkung lachen. Es dauert nicht länger als ein paar Sekunden. Einmal saß ich zwischen Dünkirchen und Brüssel mit zwei französisch sprechenden Geschäftsleuten in einem Eisenbahnabteil. Sie waren offensichtlich alte Freunde oder Kollegen. Während der gesamten Fahrt redeten sie freundlich miteinander, aber nicht einmal brachte auch nur einer von ihnen die Andeutung eines Lächelns zustande. Das könnte man sich auch bei Deutschen oder Schweizern oder Spaniern, sogar bei Italienern vorstellen, aber bei Briten – nie!
Und es ist ja so leicht, Briten eine Freude zu bereiten. Sie sind im Grunde zurückhaltend und bescheiden, und ich vermute, daß sie ihre Spezialitäten – Rosinenbrötchen, Scones, Früchtebrot, Butterkekse, Fruit Shrewsburys – deshalb auch so behutsam würzen. Sie sind die einzigen Menschen auf Erden, die Marmelade und Rosinen für aufregende Zutaten zu einem Pudding oder Kuchen halten. Führen Sie sie wirklich in Versuchung – mit einem Stück Torte oder der Auswahl unter mehreren Pralinen in einer Schachtel –, und sie werden beinahe immer zögern und anfangen sich Sorgen zu machen, daß es unverdient oder ein zu großer Luxus ist, als hafte jedem Genuß über ein sehr bescheidenes Maß hinaus der Ruch von Ungehörigkeit an.
»Ich sollte ja eigentlich nicht«, sagen sie.
»Aber nun mal bitte.« Sie versetzen ihnen einen anspornenden Rippenstoß.
»Na, dann aber nur ein kleines«, sagen sie, greifen blitzschnell zu und machen ein Gesicht, als hätten sie gerade etwas schrecklich Verwerfliches getan. All das ist dem Amerikaner vollkommen fremd. Für diesen besteht der ganze Sinn des Lebens darin, sich mehr oder weniger kontinuierlich soviel sinnliche Genüsse zu verschaffen wie möglich.
Früher hat mir diese merkwürdige britische Haltung immer Rätsel aufgegeben. Auch dieser unerschöpfliche, beharrliche Optimismus, der es ihnen gestattet, den schlimmsten Unzulänglichkeiten mit einem heiteren Satz zu begegnen – »Es hätte schlimmer kommen können«, »Nicht viel, aber der Mensch freut sich«, »Eigentlich war es doch richtig nett«. Doch als ich langsam kapierte, wie sie ticken, wurde mein Leben so glücklich wie nie zuvor. Ich weiß noch, daß ich einmal in feuchten Klamotten in einem kalten Café an einer öden Strandpromenade saß und mir eine Tasse Tee und ein Rosinenbrötchen serviert wurden. Als mir da ein »Oooh, wie lecker!« entfuhr, wußte ich, daß ich auf dem richtigen Weg war. Schon bald erschien mir alles, was ich tat – um noch etwas Toast in einem Hotel zu bitten, bei Marks & Spencer Socken mit hohem Wollanteil zu finden, zwei Hosen zu kaufen, obwohl ich eigentlich nur eine brauchte –, als kühn, ja beinahe unerhört. Mein Leben wurde unendlich viel reicher.
Nun tauschte ich mit dem glücklichen Paar vor seiner Hütte ein Lächeln aus und latschte weiter am Strand entlang bis Mudeford, einem Weiler auf einer sandigen Landzunge zwischen dem Meer und dem verschilften Christchurch Harbour. Dort hat man einen schönen Blick auf die Christchurch Priory. Mudeford war einst ein Schmugglerschlupfloch, aber heute besteht es aus wenig mehr als einer kleinen Reihe ziemlich verlotterter Läden und einer Volvo-Werkstatt.
Ich ließ den Ort hinter mir und ging weiter durch Tuckton, Southbourne und Boscombe nach Bournemouth. An allem hatte der Zahn der Zeit genagt. Sowohl die Einkaufsviertel von Christchurch als auch von Southbourne schienen wie in einer Spirale langsamen Verfalls gefangen, und in Tuckton Bridge war der Rasen eines einstmals hübschen Pub am
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