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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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hatte. Nie sind mir die Tage länger geworden.
    Ich erinnere mich, daß man die Fenster nur mit langen Stangen öffnen konnte. Ungefähr zehn Minuten, nachdem wir morgens angekommen waren, begann ein Redakteur, der so alt war, daß er kaum noch einen Bleistift halten konnte, mit dem Stuhl zu scharren, weil er versuchte, sich von seinem Tisch wegzubewegen. Er brauchte ungefähr eine Stunde, um sich von seiner Sitzgelegenheit zu erheben, und noch eine, um die wenigen Meter zum Fenster zu schlurfen und es mit der Stange aufzustoßen, und dann noch eine Stunde, die Stange an die Wand zu lehnen und zu seinem Schreibtisch zurückzuschlurfen. In dem Augenblick, in dem er wieder saß, sprang der ihm gegenübersitzende Mann auf, schritt hinüber, schloß das Fenster mit der Stange und ging mit herausfordernder Miene wieder zu seinem Platz, woraufhin der alte Knabe stoisch schweigend die Stuhlschrappprozedur von neuem begann. Während der zwei Jahre ging das jeden Tag so, bei Wind und Wetter.
    Ich habe nie gesehen, daß einer von ihnen auch nur ein Fitzelchen Arbeit getan hat. Der alte Bursche nicht, weil er praktisch den ganzen Tag damit verbrachte, zum Fenster hin- oder wieder zurückzuschleichen. Der andere Typ nicht, weil er meistens mit einer nicht angezündeten Pfeife dasaß und mich mit regelrecht anzüglichem Grinsen anstarrte. Wenn sich unsere Blicke kreuzten, stellte er mir jedesmal eine rätselhafte Frage über Amerika.
    »Sagen Sie mal«, erkundigte er sich zum Beispiel, »stimmt es, daß Mickey Rooney die Ehe mit Ava Gardner nie vollzogen hat? Das habe ich gelesen.« Oder: »Ich habe schon oft überlegt, und vielleicht können Sie mir ja sagen, warum sich der Nua-nua-Vogel auf Hawaii nur von Mollusken mit rosafarbener Schale ernährt, obwohl die mit weißer Schale zahlreicher und genauso nahrhaft sind.
    Das habe ich jedenfalls gelesen.«
    Dann schaute ich ihn an, mein Hirn vernebelt von Berichten über die Townswomen’s Guild und das Women’s Institute, und sagte: »Was?«
    »Ich gehe doch richtig in der Annahme, daß Ihnen der Nuanua-Vogel bekannt ist?«
    »Äh, nein.«
    Er zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich nicht? Sehr merkwürdig.« Und dann saugte er an seiner Pfeife.
    Es war schon ein seltsamer Laden. Der Chefredakteur war ein Eremit, der sich die Mahlzeiten von seiner Sekretärin in seine Klause bringen ließ und sich selten herauswagte. Während der ganzen Zeit, in der ich dort war, habe ich ihn nur zweimal gesehen. Einmal bei meinem Einstellungsgespräch, das drei Minuten dauerte und ihm beträchtliches Unbehagen zu bereiten schien, und das andere Mal öffnete er die Verbindungstür zwischen seinem und unserem Zimmer, ein so ungewöhnliches Ereignis, daß wir alle aufschauten. Sogar der alte Knabe schlurfte nicht weiter zum Fenster. Der Chefredakteur starrte uns baß erstaunt an, offensichtlich sprachlos, daß er vor seiner Bürotür ein Zimmer voller Redakteure vorfand, machte Anstalten zu reden, zog sich dann aber ohne ein Wort zurück und schloß die Tür. Da habe ich ihn zum letztenmal gesehen. Sechs Wochen später nahm ich einen Job in London an.
     
    Noch etwas hatte sich in Bournemouth geändert. Die kleinen Cafés mit den zischenden Espressomaschinen und klebrigen Tischen waren verschwunden. Alle drei, vier Häuser war eins gewesen. Ich weiß nicht, wo die Urlauber heutzutage Kaffee trinken – ach, doch: an der Costa del Sol –, aber ich mußte fast bis zum Triangle gehen, wo die
    Endstation der Stadtbusse war und die Fahrer sich ausruhten, bis ich mich endlich an einer bescheidenen, erfrischenden Tasse laben konnte.
    Dann hatte ich Lust auf einen kleinen Ausflug und nahm einen Bus nach Christchurch. Zurück wollte ich zu Fuß. Ich erwischte einen Platz vorn auf dem Oberdeck eines gelben Doppeldeckers. Oben zu fahren versetzt mich immer in Hochstimmung. Man kann in die Fenster der höheren Stockwerke schauen und den Leuten auf die Köpfe. Nicht zu vergessen die erregende Bibberei, wenn man, immer knapp an der Katastrophe vorbei, um eine Ecke oder durch einen Kreisverkehr schwankt. Man betrachtet die Welt aus einer völlig neuen Perspektive. Städte wirken im allgemeinen schöner – und Bournemouth ganz besonders. Plötzlich merkt man, daß man in einem viktorianischen Kleinod ist. Vor 1850 existierte Bournemouth nicht einmal – es bestand nur aus ein paar Bauernhöfen zwischen Christchurch und Poole –, doch dann boomte es wie verrückt, Piers und Promenaden und meilenweit schmucke

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