Reigen des Todes
die weiche Fettschicht zu zittern an. Ganz so, als ob sie sich vor dem Verzehr fürchtete.
Juni/Juli
»Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung der Triebe aufgebaut.
Jeder Einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden.«
Sigmund Freud in ›Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität‹, Wien 1908.
I/3.
Am Abend des 1. Juni gab es vor dem Theater an der Wien eine große Auffahrt von Kutschen, unter die sich auch das eine oder andere Automobil mischte. Zu allem Überdruss steckte mitten in diesem Chaos auch eine wild bimmelnde Tramway. Alles zusammen brachte den Verkehr zum Erliegen. Nach einiger Zeit tauchte in dem Gewühl die blitzende Pickelhaube eines Sicherheitswachmannes auf. Der gute Mann versuchte vergebens, den Stau in einen geregelten Verkehrsfluss zurückzuverwandeln. Verursacht wurde das Chaos durch die Wiener Premiere von Leo Falls Operette ›Der fidele Bauer‹, die im Vorjahr in Mannheim mit großem Erfolg uraufgeführt worden war. Und so drängte sich ›toute Vienne‹ in das Theater an der Wien. Für Steffi Moravec war heute ein ganz besonderer Abend. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging sie ins Theater. Und dies nicht auf einem Stehplatz weit hinten oder unterm Dach oben, sondern in einer Loge! Außerdem musste sie nicht zu Fuß ins Theater gehen. Sie fuhr an der Seite Collredis in einer seiner prächtigen Kutschen vor. Als sie endlich den Theatereingang erreicht hatten, öffnete ein livrierter Bediensteter den Schlag und half ihr, so wie einer hochwohlgeborenen Dame, beim Aussteigen. Die Krönung des Abends war aber die Tatsache, dass sie am Arm von Collredi – einer Gräfin gleich – durch die Menschenmenge im Foyer schritt. Sie bemerkte mit Genugtuung, dass sie als stattliches Paar viele Blick auf sich zogen und wie sich Köpfe tuschelnd zueinander neigten. Das war Balsam für ihre Seele. Heute Abend konnte ganz Wien sehen, dass sie das erreicht hatte, wovon fast jedes Mädel aus dem Volk träumte: Sich einen sehr reichen, sehr angesehenen und noch dazu attraktiven Mann zu angeln und an seiner Seite das Leben zu genießen. Sie spürte außerdem, dass Collredi sich keineswegs für sie genierte, sondern ebenfalls die Situation genoss. Amüsiert registrierte er die wegen der offensichtlichen Mesalliance erstaunt erhobenen Augenbrauen, die leicht gerümpften Nasen sowie das Geflüster hinter seinem Rücken. All das bestätigte ihn in der rasenden Leidenschaft für das prächtige junge Weib an seiner Seite.
Noch nie hatte die Moravec einen Liebhaber gehabt, der so sehr Wachs in ihren Händen war. Mit dem verliebten Gockel Collredi konnte sie machen, was ihr beliebte. Dagegen war das biedere, eheähnliche Zusammensein mit Vestenbrugg bestenfalls ein Amuse-Gueule gewesen. Ein kleiner Vorgeschmack auf das festliche Menü von materiellen und gesellschaftlichen Genüssen, das ihr der verwitwete Markgraf bot. Und während sie an der Seite Collredis die Treppen zu ihrer Loge emporstieg, ließ sie die letzten Wochen vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Tatsächlich konnte sie einen Triumph nach dem anderen verbuchen. Nicht nur, dass sie die Kinderhuldigung zum sechzigsten Regierungsjubiläum Seiner Kaiserlichen Majestät als Gast auf der Ehrentribüne mitverfolgen durfte, auch daheim im Collredischen Palais hatte sie Schritt für Schritt Widersacher ausgeschaltet und die Kontrolle über den gräflichen Haushalt übernommen. So würde die aufmüpfige Tochter des Grafen nächstes Jahr in das Internat ›Sacré Coeur‹ abgeschoben werden. Jean, der arrogante Kammerdiener, war Knall auf Fall entlassen worden. Und dem Verwalter Bohumil Jezek, dem die finanzielle Gebarung des gräflichen Haushaltes oblag, wurde sie als Kontrollinstanz vor die Nase gesetzt. Zu seinem großen Ärger musste er nun alle Ausgaben von ihr abzeichnen lassen. Außerdem waren auch noch ein aufsässiger Hausknecht sowie eine freche Dienstmagd entlassen worden. Aber das Schönste daran war, dass ihre harte Hand dem Personal gegenüber Collredi absolut faszinierte.Vom herrischen Gemüt der Moravec ging ein Zauber aus, dem Collredi bedingungslos erlegen war. Er überhäufte sie nicht nur mit häuslichen Befugnissen, sondern auch mit Geschenken. Kandierte Früchte und Blüten sowie erlesenes
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