Reigen des Todes
und sich schützend neben den Kaiser stellen? Oder sollte er wie die versammelten Mitglieder der kaiserlichen Familie in einem Respektabstand hinter dem Monarchen stehen bleiben? Nach kurzem Zögern entschied er sich für Zweiteres. Das hatte aber zur Folge, dass er während der gesamten halbstündigen Darbietung enorm beansprucht war. Einer gespannten Feder gleich war er bereit, jederzeit einen mächtigen Sprung nach vorne zu tun, um den Kaiser mit der gesamten Fülle seines Leibes zu schützen. Aufgeregt, wie er war, hatte er weder Augen für die unter Fanfarenklängen auf einem Triumphwagen vorfahrende Austria, noch für die ihr folgende Vindobona. Auch für die Deklamationen der Kinder sowie der beiden allegorischen Figuren, die von bekannten Schauspielerinnen dargestellt wurden, hatte er kein Ohr. Genauso wenig wie für den aus eintausendfünfzig Kindern bestehenden Chor und die Musik des philharmonischen Orchesters. Denn er lauerte ständig, ob nicht irgendwo etwas Verdächtiges geschah. Es war daher nicht verwunderlich, dass Nechyba beim abschließenden Trommelwirbel, der von zwanzig Militärtrommeln des k.u.k. Infanterieregiments N° 4 entfacht wurde, Seine Majestät beinahe von hinten angesprungen und umgerissen hätte – um ihn vor der vermeintlichen Gewehrsalve zu schützen. Gott sei Dank beherrschte er sich nach dem ersten wilden Ausfallschritt, erstarrte und trat anschließend wieder in die hinter dem Kaiser stehende Personengruppe zurück. Als das von Marie Sidonie Heimel-Purschke verfasste Festspiel ›Gott erhalte‹ schließlich geendet hatte, war Nechyba schweißgebadet. Kaiser Franz Josef ging nun links die Freitreppe hinunter, Nechyba folgte ihm in einem Respektabstand von drei Schritten. Jubel brandete unter den Kindern und Festgästen auf. Der Kaiser trat auf den Wiener Bürgermeister zu und bedankte sich für das dargebotene Schauspiel. Tief gerührt sprach er: »Die Kinder sind für mich das Schönste und Liebste. Je älter ich werde, desto mehr liebe ich die Kinder.«
Danach trat der Monarch auf die Gruppe zu, die an dem Festspiel mitgewirkt hatte. Er lobte die Leistungen der Schauspielerinnen Römpler-Bleibtreu und Ritzinger sowie der Kinder. Danach ging es weiter zum rechten unteren Teil der Freitreppe. Hier befanden sich die Persönlichkeiten, die sich um die Veranstaltung verdient gemacht hatten. Sie wurden dem Kaiser einzeln vorgestellt. Danach grüßte Seine Majestät das versammelte Komitee und schritt unter dem Jubel des Publikums über die rechte Freitreppe zurück auf die Terrasse. Nechyba, der dem Monarchen ständig folgte, entspannte sich allmählich. Als der Kaiser einen Augenblick innehielt, um nochmals alle Anwesenden zu grüßen, ließ der Inspector seinen Blick über die vor ihm liegende Tribüne der Ehrengäste streifen. Sogleich war es mit seiner Entspannung vorbei. Denn mittendrin unter all den höchsten und allerhöchsten Persönlichkeiten saß die von ihm gesuchte Steffi Moravec. Am liebsten hätte er sie vom Fleck weg verhaftet. Er beherrschte sich aber und folgte dem Kaiser ins Innere des Schlosses. Dort bedankte sich der Monarch mit einem kräftigen Händedruck bei ihm. Vor Verwirrung und Stolz blieb Nechyba starr wie eine Salzsäule stehen. Erst als Gorup von Besanez ihn beim Arm nahm und behutsam hinausführte, kehrten seine Lebensgeister zurück. Der Zentralinspector klopfte ihm ermunternd auf die Schulter. »Alle Achtung, Nechyba. Wie Sie beim Trommelwirbel blitzschnell reagierten, dann mitten im Sprung innehielten und sich zusammengerissen haben, das war superb. Das muss Ihnen erst einer nachmachen.«
XIV/2.
Ab Mittag des 21. Mai setzte Joseph Maria Nechyba Himmel und Hölle in Bewegung, um der Moravec habhaft zu werden. Noch bevor er Schloss Schönbrunn verlassen hatte, bat er den Polizeirat Gayer, beim Obersthofmeisteramt herauszufinden, in wessen Begleitung Steffi Moravec bei der Kinderhuldigung erschienen war. Im Polizeigebäude ging er noch einmal hinüber ins Centralmeldeamt, um nachzusehen, ob sie mittlerweile an einem neuen Wohnsitz gemeldet war. Dies war leider nicht der Fall. Ziemlich enttäuscht begab er sich in sein Arbeitszimmer zurück und überlegte hin und her, wie er ihr auf die Spur kommen könnte. Der einzige zarte Hoffnungsschimmer, der ihm blieb, war das Café Sperl und dessen Cafetier Kratochwilla. Der Ordnung halber sei erwähnt, dass der Inspector und seine Polizeiagenten in den letzten Wochen nicht untätig gewesen waren. Sie hatten
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