Reigen des Todes
Dienstbeginn um sechs Uhr hatten sich alle vierzehn Polizeiagenten seiner Mannschaft beim Eingang der Rotunde eingefunden. Nechybas Gruppe löste die von Jellacic ab, die ebenfalls vierundzwanzig Stunden lang hier ihren Dienst versehen hatte. Und der war schwierig genug. So mussten Nechyba und seine Männer eine Gruppe von Dalmatinern beruhigen, die als Festzugsteilnehmer nach Wien eingeladen worden waren und für die es weder Quartier noch Verpflegung gab. Auf sein Drängen hin wurden sie zu den Funktionären des Festzugskomitees in die Innere Stadt gebracht. Noch schlimmer wurde es um neun Uhr abends, als es fast zu einem Aufstand von rund vierhundert galizischen Bauern kam. Ihnen wollte das Festzugskomitee allen Ernstes zumuten, in winzigen Zelten zu fünfundzwanzig bis dreißig Personen auf nackter Erde zu übernachten. Auch diese Teilnehmergruppe hatte bis dahin keinerlei Verpflegung bekommen. Einige der galizischen Huzulen und Masuren demolierten in ihrer Wut die Zelte und rotteten sich sodann mit Zeltstangen bewaffnet vor dem Eingang der Rotunde zusammen. Nechyba und seine Leute traten ihnen entgegen und beruhigten sie. Danach zwang er die Herren des Festzugskomitees, an die hungrigen Galizier Gulasch und Brot auszuteilen. Aufgrund von Schlamperei Menschen hungern zu lassen, dafür hatte Nechyba überhaupt kein Verständnis! Weiters erwirkte er, dass die Frauen der Galizier in einer Baracke des Roten Kreuzes und die Pferde der galizischen Festzugswägen in den Stallungen der benachbarten Rennbahn Quartier bezogen. Schließlich wurde im Inneren der Rotunde doch noch ein Platz gefunden, wo die männlichen Galizier übernachten konnten. Allerdings mussten sich die armen Teufel das Stroh, auf dem sie sich niederlegten, selbst herbeischaffen. Von Strohsäcken oder gar Matratzen war sowieso keine Rede …
Im Laufe des folgenden Tages erfuhr Nechyba von einem Kollegen, dass es der Abordnung aus der Bukowina nicht viel besser ergangen war. Sie musste in den Pferdestallungen ihr nächtliches Notquartier beziehen. Eine unglaubliche Schweinerei, das alles! Insgeheim beglückwünschte Nechyba seine tschechischen Landsleute zu ihrem Entschluss, an dem ganzen Festzug überhaupt nicht teilzunehmen. Dadurch waren ihnen all diese Kalamitäten erspart geblieben 51 . Gegen elf Uhr wurde es in der riesigen Halle der Rotunde ruhig. Tausende Festzugsteilnehmer von auswärts fanden hier – streng getrennt nach Männern und Frauen – einige Stunden vor Beginn des großen Spektakels Ruhe. Ab Mitternacht gönnte sich Nechyba auf einem Sessel in einem Eck der provisorischen Wachstube ebenfalls ein Nickerchen. Um vier Uhr früh wurde er geweckt, als die Festzugsteilnehmer aufstanden und in Scharen zum westlichen Teil der Rotunde pilgerten, wo sich Waschräume für dreihundert Personen befanden. Danach strömten die einzelnen Gruppen zu ihren Sammelplätzen vor der Rotunde. Um halb fünf Uhr früh marschierten uniformierte Einheiten der Sicherheitswache auf, die die Festzugs-Route abzusperren begannen. Ab fünf Uhr erhielten sie Verstärkung von Militäreinheiten. Zu dieser Zeit waren bereits Tausende Zuschauer im Prater angelangt. Und es strömten immer mehr hierher, wo der Festzug seinen Ausgangs- und Endpunkt hatte. Es kam zu krawallartigen Szenen, da viele der hier Versammelten für das Spektakel keine Eintrittskarten hatten. Wobei die Exekutive und die Ordner schließlich nachgaben und die Frühaufsteher oder vielmehr diejenigen, die überhaupt im Prater übernachtet hatten, auch ohne gültige Karten bleiben ließen. Um die Festzugsroute von der immer größer werdenden Menschenansammlung wirkungsvoll absperren zu können 52 , marschierten schließlich auch Kadetten der Militärbildungsanstalten auf. In und vor der Rotunde herrschte beim Aufstellen der einzelnen Gruppen ein so großes Tohuwabohu, dass es zu massiven Verspätungen kam. Um halb neun Uhr setzte sich schließlich die erste Gruppe des historischen Teils in Bewegung. Ab diesem Zeitpunkt legte sich allmählich das Chaos. Nechyba und seine Männer konnten beruhigt aufatmen. Und da der Wettergott es gut mit der Veranstaltung meinte, wurde es ein sonniger, fast sommerlich heißer Tag. Nechyba döste im Schatten der Rotunde vor sich hin. Nur ab und zu warf er einen Blick auf die abziehenden bunten Gruppen. Ihm war das ganze Spektakel ziemlich wurscht. Es kam ihm leer und irgendwie aufgesetzt vor. Was sollte dieser ganze Pomp und Aufwand? Wie er aus der Presse wusste, fand
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