Reigen des Todes
freundlich. Nachdem der Bart auf einen feschen Schnauzer zurückgestutzt worden war, wusch er dem Schöberl die Haare und schnitt sie. Eine Prozedur, bei der sich Schöberl wie im siebenten Himmel vorkam: Das herrlich warme Wasser, die wunderbare Kopfmassage, der zarte Geruch von Seife, das Abtrocknen der Haare mit einem sauberen Handtuch und das flinke Klicken der Schere. Alles zusammen Wohltaten, die er nun schon viele Jahre nicht mehr erfahren hatte. Als er frisch und sauber aus dem Friseurladen hinaustrat, hätte er die Welt umarmen können. Er spazierte durch den 1. Bezirk und überlegte, ob er kurz in ein Kaffeehaus schauen und dort wie ein richtiger Herr ein bisschen Zeitung lesen und die Zeit totschlagen sollte. Dabei fiel ihm der dicke Inspector Nechyba ein, der ihn wiederholt ins Café eingeladen hatte. Und der ihn immer wieder darauf angesprochen hatte, dass, wenn ihm eine gewisse Steffi Moravec über den Weg rennen sollte, er ihm dies unbedingt mitteilen müsse. Nun, die Moravec war mittlerweile ein Fixstern am Himmel der Saturn-Film. Ein Unternehmen, dem er seine Rückkehr in die anständige Gesellschaft verdankte. Sie war die Verlobte von seinem Freund Hans Popovic und die Geliebte seines Chefs Johann Schwarzer. Verflixt und zugenäht! Er konnte dem Inspector, so sehr er ihm auch einen Gefallen schuldete, nicht die Moravec ausliefern. Popovic und Schwarzer würden ihm das nie verzeihen. All das machte ihn ziemlich unglücklich.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ging er kurz entschlossen ins Café Landtmann. Er genoss es, nun wie ein normaler Bürger gekleidet und frisiert zu sein. Die Kellner grüßten ihn höflich und er setzte sich in eine der Fensterlogen. Nachdem er sich eine Melange bestellt hatte, ging er zum Zeitschriftenständer und angelte sich eine Zeitung, deren Schlagzeile ihm ins Auge sprang: Eine Frau auf dem Schafott. Zurück auf seinem Platz, nahm er einen Schluck Kaffee und begann, ganz entspannt zu blättern. Was für ein Gefühl! Das normale, bürgerliche Leben hatte ihn wieder. Auf Seite sechs las er den Artikel, auf den sich das Titelbild dieser Ausgabe der ›Wiener Bilder. Illustriertes Familienblatt‹ bezog:
Am 23. Juli wurde in Freiberg die Bürgermeisterstochter Grete Beier, welche ihren Bräutigam, den Oberingenieur Pressler, ermordet hatte, durch das Fallbeil hingerichtet. Grete Beier hatte ihrem ahnungslosen Bräutigam, der sie ungemein liebte, gelegentlich eines Besuches mitgeteilt, sie habe ihm eine Überraschung von dem Jahrmarkte mitgebracht. Er müsse sich aber die Augen verbinden lassen. Als der arglose Mann sich tatsächlich die Augen verbinden ließ, forderte Grete Beier ihn auf, er möge den Mund öffnen, steckte ihm, als er das tat, den Lauf eines bereitgehaltenen Revolvers in den Mund und feuerte einen Schuß ab. Pressler war sofort tot. Die Mörderin schmuggelte hierauf unter die Verlassenschaft des Ermordeten ein gefälschtes Testament, in welchem sie zur Universalerbin eingesetzt wurde. Gleichzeitig suchte sie durch gefälschte Briefe den Anschein zu erwecken, als ob Pressler einen Selbstmord verübt hätte. Dies alles unternahm die Beier, um ihren Geliebten, mit dem sie schon ein langjähriges Verhältnis hatte, heiraten zu können.
Die Verbrechen der Mörderin wurden trotz raffinierter Ausführung aufgedeckt, und obwohl die Geschworenen, die sie zum Tod verurteilt hatten, einen Begnadigungsantrag unterzeichnet hatten, ließ der König von Sachsen der Gerechtigkeit freien Lauf.
Schöberl hielt kurz inne und strich sich über seinen frisch gestutzten Schnurrbart. Irgendwie erinnerte ihn diese Grete Beier an die Steffi Moravec. Sollte er nicht doch zu Nechyba gehen und ihm Bescheid sagen, bevor noch ein Unglück passierte? Er holte tief Luft, trank einen Schluck Kaffee und las weiter.
Wenige Minuten vor halb sieben Uhr wurde Grete Beier in den Hof des Landesgerichtes geführt, wo in der Nacht das Schafott errichtet worden war. Ihr zur Seite schritt der Pastor, der mit Grete Beier laut betete und sie bis zum Fuß des Schafotts geleitete, wo er betend stehen blieb. Nach Verlesung des vom König bestätigten Urteils wurde die Mörderin rasch auf das Schafott geschnallt. Man hörte die Grete Beier bis zum letzten Augenblick Gebete vor sich hinflüstern. Ihre letzten, von allen Umstehenden ganz deutlich vernommenen Worte waren: › Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist! ‹ Im nächsten Momente sauste das Fallbeil herab und der Kopf der
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