Rein Wie Der Tod
erfassen kann, oder nicht? Es gibt also Geräusche, die du nicht erfassen kannst. Warum sollten dann nicht auch Dinge in der Welt existieren, die deine Augen nicht sehen können? Wieso glaubst du, so perfekt zu sein, dass du alles wahrnehmen kannst? Wenn du die Existenz des Übersinnlichen abstreitest, dann argumentierst du doch mit dem Übersinnlichen - verstehst du das nicht? Deine Beweisführung, dass es in der Welt nichts anderes gibt als die physikalischen Gegebenheiten, die du sehen oder auf irgendeine andere Weise wahrnehmen kannst, basiert schlicht und einfach auf einer zirkulären Argumentation.«
Er musste über ihr Engagement lächeln und wartete auf die Schlussfolgerung.
»Wer behauptet, dass es keine Wahrheiten gibt, benutzt die Wahrheit als Argument.«
»Amen«, sagte er und nahm einen Schluck Whisky.
Tove griff nach den Tarot-Karten auf dem Bücherregal, hielt sie ihm hin und sagte: »Die Karten an sich behaupten gar nichts.«
»Ich habe es dir schon Hundert Mal gesagt. Ich will nicht die Zukunft vorhergesagt haben«, unterbrach er sie.
»Die Karten an sich behaupten gar nichts«, wiederholte sie unverdrossen. »Die Karten sind Symbole, die Möglichkeiten bewusst machen. Sie können dir Wahlalternativen aufzeigen, deinen Bewusstwerdungsprozess unterstützen.«
Er musste noch einmal über ihre Wortwahl lächeln. Tove hatte in vieler Hinsicht zwei Seiten. Auf den meisten Gebieten teilte sie seine Skepsis, doch gleichzeitig verehrte sie das Irrationale und hegte eine tiefe Faszination für jedes Thema im Bereich der Parapsychologie.
Sie sagte: »Du selbst triffst die Wahl. Ich mische die Karten, aber du hebst ab. Ich verteile die Karten auf dem Tisch. Du bist es, der die Karten auswählt und die zieht, die gelesen werden sollen. Was steuert deinen Willen? Was bringt dich dazu, genau diese Karten zu wählen? Wir wissen es nicht. An und für sich spielt es keine Rolle, welche Karten du ziehst, bevor sie auf den Tisch gelegt und gelesen werden. Erst wenn die Karten umgedreht auf dem Tisch liegen, kann ich sie lesen, aber meine Lesart kriegt nur eine Bedeutung, wenn hinter deinem Handeln eine Intention liegt. Deshalb möchte ich, dass du an etwas Ungeklärtes denkst, wenn du die Karten wählst. Stell dir selbst eine Frage, bring irgendeine Form von Dissonanz in die Situation.«
»Ich bitte dich«, sagte er und gähnte. »Das war heute ein langer Tag.«
Tove dachte kurz nach und fasste dann einen Entschluss: »Okay«, sagte sie, »ich lasse dich in Ruhe, wenn du das Pendel ausprobierst. Du stellst eine Frage, und es wird durch sein Pendeln antworten.«
Er griff nach dem Faden mit der Schraube. »Du meinst also, diese Schraube weiß etwas über mich und mein Leben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du dem Pendel eine Frage stellst, die außerhalb des Feldes liegt, das du selbst beherrschst, dann wird es dir keine Antwort geben. Das hier ist weder Magie noch Hokuspokus. Die Karten und das Pendel sind Werkzeuge für dein eigenes Bewusstsein.«
Gunnarstranda fühlte, wie ihn die Erschöpfung langsam umfing, und nickte schwach. Er wusste nicht genau, wo er anfangen sollte, versuchte es aber:
»Weißt du, ich hatte einen Fall vor dem Untersuchungsgericht, einen Haftbefehl. Wir sind zu schnell gewesen, und der Beschuldigte kam wieder frei. Was mache ich in dieser Situation? Glaubst du, die Schraube kann mir eine Antwort geben?«
»Das glaube ich nicht, und das weißt du ganz genau.«
»Aber sie soll doch Fragen beantworten können, oder?«
»Die Frage ist, ob dein Interesse aufrichtig ist.«
»Wenn ich nicht daran interessiert wäre, dann hätte ich nicht gefragt.«
»Okay«, lächelte Tove. »Erst musst du eine Schlussfolgerung formulieren. Du musst wissen, in welche Richtung das Pendel schwingen soll bei Ja oder Nein. Frag zum Beispiel, ob es jetzt Tag ist. Die Antwort wird Ja sein. Danach frag, ob es schon Nacht geworden ist. Die Richtung, in die das Pendel schwingt, ist Nein. Wenn das Pendel die Antwort nicht weiß, wird es rotieren. Na los«, forderte sie ihn auf und erhob sich. »Dann bist du schneller fertig.«
Sie huschte in Richtung Küche, blieb aber in der Tür noch einmal stehen und lächelte ihn an. »Ich habe Krabben gekauft, frisch vom Kutter.«
Gunnarstranda leerte sein Glas, den Faden mit der Schraube in der Hand. Das hier ist bescheuert, dachte er und hielt das Pendel in die Luft. Zum Spaß fragte er sich selbst: Bin ich ein Idiot? Das Pendel begann zu schwingen. Er ließ den
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