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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Reich
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wollte die Kleine nicht durch Fragen abschrecken. Es schien ihr fast, als habe das Mädchen auf sie gewartet. Agáta nahm es hin, später würde sich diese Allwissenheit sicher aufklären.
    »Sie sind ziemlich spät unterwegs. Die Sonne ist schon weg.« Wie auf ihren Befehl verschwanden die letzten Sonnenstrahlen von der Lichtung.
    »Ja, tatsächlich. Ich habe einen Spaziergang gemacht und gar nicht auf die Zeit geachtet.« Das Mädchen wirkte angespannt. Ein hübsches Kind, vielleicht ein bisschen zu ernst für sein junges Alter. Aber erfreulich selbstbewusst. Agáta ließ ihr Zeit. Sie konnte gut mit Kindern umgehen, sie war eine erfolgreiche und beliebte Kinderärztin gewesen. Nur ganz selten hatten ihre kleinen Patienten nicht Vertrauen gefasst.
    Das Mädchen betrachtete sie eine Weile nachdenklich, schien nach Worten zu suchen. »Ich brauche Hilfe«, sagte sie schließlich und winkte Agáta, ihr ins Haus zu folgen.
    Im Inneren war es dunkel und muffig, ein Geruch nach Kohl und Moder, Kaminfeuer und Mottenkugeln. Agáta hatte Mühe, auch nur die Umrisse der Möbel zu erkennen. Hermiona ging mit schlafwandlerischer Sicherheit durch einen Flur, stieg eine Treppe hinauf und öffnete leise eine Tür. Sie winkte Agáta näher, dann fasste sie sie an der Hand und führte sie in das Zimmer hinein. Es war ein kleiner Raum, der nur einem schmalen Bett, einem Nachttisch und einem Schrank Platz bot. Auf dem Boden lag ein alter Teppich, auf dem Nachttisch brannte eine Kerze. Im Bett lag eine alte Frau, die faltigen Hände auf der Brust gekreuzt, das graue Haar lag wie ein verwittertes Vogelnest um ihren Kopf. Neben ihr saß ein Mann mit silbernem Haar auf einem Hocker, die Hände zum Gebet gefaltet, auf seiner Schulter hockte ein bewegungsloser Rabe. Es war bitterkalt in dem Raum. Durch das offene Fenster strömte eisige Winterluft herein.
    Hermiona ging zu dem alten Mann und legte ihm eine Hand auf die Schulter. » Dědo «, sagte sie leise, »das ist Agáta, sie wird uns helfen.«
    Der Mann sah auf, sein Blick streifte das Mädchen, blieb auf Agáta haften. Lange sah er sie mit völlig ausdruckslosem Gesicht an. Der Rabe krähte, flatterte durch den Raum und ließ sich wie selbstverständlich auf Agátas Schulter nieder. Sie lächelte und strich ihm sanft über das pechschwarze Gefieder. Der Rabe ließ es sich gefallen, krächzte leise und flatterte zurück zu seinem Herrn.
    »Es hat sie umgebracht«, sagte der alte Mann unvermittelt, »ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe es um Hermionas willen getan.« Seine knochige Hand strich über die Wange des Mädchens. Er begann, am ganzen Leib zu zittern.
    »Sie müssen sich aufwärmen«, sagte Agáta sanft, »kommen Sie, gehen wir in die Küche. Ich mache eine Kanne heißen Tee, und wir besprechen alles.« Sie fühlte sich, als sei sie in eine andere Welt geraten, eine längst untergegangene Welt, als sei sie auf einer zeitlosen Insel. Nicht nachdenken, mahnte sie sich, lass dich von deiner Intuition leiten. Alles hat seine Zeit.
    Der alte Mann stand mühsam auf, Hermiona stützte ihn, so gut sie konnte. Er war groß und so schmal, dass er nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Er beugte sich zu der toten Frau auf dem Bett hinunter, küsste sie auf die Stirn und verließ, den Raben auf der Schulter, mit Hermiona und Agáta das kleine Schlafzimmer.
    Zehn Minuten später saßen sie um den alten Küchentisch, vor sich dampfende Teetassen. Der Rabe hatte sich auf seine Stange zurückgezogen, die wie ein Trapez vor dem Fenster hing. Er schien zu schlafen. Der alte Mann hielt seine Tasse in beiden Händen, starrte hinein wie in eine Kristallkugel. Hermiona stand auf und machte sich am Feuer in dem alten Küchenherd zu schaffen. Agáta wartete geduldig.
    Der Alte hob den Kopf und sah sie an. »Es ist eine lange Geschichte.«
    Agáta nickte. Das hatte sie sich gedacht. Vermutlich eine sehr lange Geschichte. Und eine, die weit zurückreichte.
    »Es gibt mich eigentlich gar nicht«, begann er, »ich stamme aus einer deutschen Familie. Nach dem Krieg wurde meine Familie vertrieben, wie die meisten Deutschen aus dieser Gegend. Mein Vater ist im Krieg geblieben, irgendwo in Russland. Meine Mutter starb auf dem Weg nach drüben. Meine Geschwister – ich weiß es nicht, ich habe sie nie wieder gesehen. Ich bin erst zehn Jahre später aus Russland gekommen, nach Deutschland. Aber ich hatte mein Mädchen hier zurückgelassen. Sie war Tschechin. Und sie war damals schwanger gewesen,

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