Reinen Herzens
mit dem Fahrradfahren – man verlernte es nicht. Immerhin hatte er sich zu Studienzeiten mit solchem Klavierspiel gelegentlich ein karges Zubrot in verschiedenen Cafés verdient. Du bist ein verdammter Idiot, dachte er, hör auf, solange noch Zeit ist. Du willst es doch wohl nicht darauf anlegen … Es war ihm vorgekommen wie ein Déjà vu , als er vorhin das Lokal betreten hatte. Er hatte mit allen möglichen bekannten Gesichtern gerechnet, aber sicher nicht mit dem von Larissa Khek. Erst Valeska und jetzt die rasende Reporterin. Was in aller Welt machte sie hier? Er hatte sie wie eine Erscheinung angestarrt. Und sie hatte den Blick erwidert. Erkennt sie mich, hatte er sich gefragt und einen Moment überlegt, gleich wieder zu gehen. Doch sie hatte nicht weiter reagiert. Er riskierte seine Tarnung, das war ihm durchaus bewusst. Eigentlich hatte er nur auf Gustav Mottl warten wollen, den er im Försterhaus nicht angetroffen hatte. Aus einer abenteuerlustigen Laune heraus war er nicht gegangen. Das einzige Zugeständnis war, seine Sonnenbrille nicht abzunehmen, albern, wie das war. Egal, es war Teil des Spiels. Als sie angefangen hatte zu spielen, hatte er sich dem Zauber ihrer Musik hingegeben, anfangs ohne groß auf die Worte zu achten. Doch spätestens beim letzten Song war ihm klar geworden, dass die rastlose Reporterin per Klavier mit ihm flirtete. Interessant. Abenteuerlustig, die Kleine. Ein Spiel unter Fremden. Er hatte ein Glas Wein für sie bestellt, und als sie es angenommen hatte, war er aufgestanden, um zu ihr zu gehen – trotz der warnenden Stimme in seinem Kopf. Nur ein kleines Experiment, dachte er, mal sehen, wie weit sie geht. Er hatte Lust, dieses Spiel weiterzutreiben. Wie weit? Egal. Das würde sich ergeben, wie so vieles in den letzten Tagen. Ein Gespräch. Ein Flirt. Was auch immer. Ein kleines Abenteuer ganz im Sinne von Solo Lovec oder eher Yvan Tzara. Er hatte sich zum ersten Mal seit Langem wieder lebendig gefühlt, wie ein echter Mensch, nicht nur wie eine personifizierte falsche Identität. Am Klavier hatte er sich dann spontan hingesetzt, seine Finger hatten die Tasten gesucht, wie von selbst hatten sie dieses Lied angestimmt. Ausgerechnet. Vielleicht ein bisschen zu eindeutig. Wohin würde das führen … Während er spielte, stiegen Bilder von Magda und seinem früheren Leben in ihm auf. Es schien nicht nur Tage, sondern Jahre und Welten entfernt zu sein. Rigoros verdrängte er sie. Auszeit. Einer der seltsamen Tagebucheinträge aus dem Messerwerfer fiel ihm ein: »Warum versuchen, der zu sein, der man ist?« Zumal, wenn man gar nicht sicher ist, wer man gerade ist, dachte er amüsiert, wenn man lediglich Träger wechselnder Identitäten ist, nichts als ein Name. Er war im Moment Martin Trojan, wer auch immer das sein mochte. Das Gefühl des Fremdseins eröffnete ihm plötzlich eine ungeahnte, grenzenlose Freiheit. Es zählte nur das Hier und Jetzt, Vergangenheit und Zukunft spielten keine Rolle. Das ist doch ausgemachter Blödsinn, widersprach eine vernünftige, innere Stimme. Natürlich, stimmte er zu, es ist ja auch nur ein Spiel. Und ich bin ein leidenschaftlicher Spieler. Nicht nur am Klavier.
Das Klatschen der Gäste rüttelte ihn aus seinen Gedanken. Er ignorierte die Rufe nach Mehr! und Weiter, bitte! , stand auf und ging mit seinem Glas zu Larissas Tisch. Idiot, raunte seine innere Stimme. Er ignorierte sie.
Sie sah ihn an, schmunzelte. »Machen Sie so was öfter?«
»Es heißt, wer auf sich hält, der brennt einmal im Leben mit einer Tänzerin durch. Zur Not darf es auch eine Sängerin sein. Wie wär’s?« Er setzte sich. Jetzt zitierte er diesen Tzara auch noch. Aber er konnte nicht widerstehen. Noch eine neue Rolle.
»Dann haben Sie Pech heute Abend. Ich bin Journalistin.«
»Also eine Schriftstellerin ohne Geduld. Das geht auch. Zur allergrößten Not.«
»Leider nur eine Schubladenschriftstellerin, bisher. Sie scheinen nicht sehr wählerisch zu sein.«
»Im Gegenteil. Ich verführe nur attraktive, intelligente und witzige Frauen.« Er bediente sich weiter freizügig aus dem Messerwerfer . Absurdes Theater.
»Tut so viel Coolness nicht weh?« Sie grinste.
»Sehr.« Er verzog das Gesicht zu einer theatralischen Grimasse.
»Gut. Es gibt sie also doch, die ausgleichende Gerechtigkeit. – Danke für den Wein, übrigens.« Sie prostete ihm zu.
Er erwiderte die Geste. »Was macht eine Großstadtjournalistin in dieser abgelegenen Provinz?«
Larissa warf ihm einen
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