Reinen Herzens
Aktion auf das absolut Notwendige beschränken. Aber was war das absolut Notwendige? War es wirklich nötig, Magda und seine engsten Freunde und Kollegen glauben zu lassen, er sei tot? Er war sich sicher, dass so ein Geheimnis bei ihnen gut aufgehoben sein würde, doch Felix war davon nicht zu überzeugen gewesen. Je weniger Leute davon wissen, desto weniger können sich verplappern, hatte er gesagt und jede weitere Diskussion darüber verweigert. Schließlich hatte Anděl nachgegeben. Es passte ihm nicht, aber er hatte versprochen, sich aus allem rauszuhalten und hierzubleiben. Das Nichtstun machte ihn ruhelos und das Leid, das sein angeblicher Tod Magda und seinen Freunden verursachte, quälte sein Gewissen. Er stand auf und ging ins Bad. Beim Händewaschen warf er einen Blick in den Spiegel. Auf seinem linken Wangenknochen klebte ein Pflaster, das die vernähte Platzwunde schützte, die er sich bei seinem Sturz zugezogen hatte. Das Auge darüber zeigte noch die inzwischen grünlich-gelben Reste eines Veilchens. Du bist tot, sagte er zu seinem Spiegelbild und zog die Brauen hoch. Hübsche Leiche. Immerhin, die Totenflecken hielten sich in Grenzen, waren sogar in Auflösung begriffen. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das Pflaster spannte unangenehm. Magda hat dir das Leben gerettet, hatte Felix ihm gesagt, du hattest einen Herzstillstand, sie hat dich wiederbelebt. Er fuhr sich mit der rechten Hand über die Brust. Der Bluterguss schmerzte, seine Rippen auch. Ein Herzstillstand. Er erinnerte sich an Berichte von Nahtoderlebnissen, die er vor Jahren gelesen hatte. Von einem Licht war dort die Rede gewesen, das die Menschen durch einen dunklen Tunnel in eine andere Welt zog. Hatte er ein Licht gesehen? Nein – kein Licht, keinen Tunnel, nicht mal eine Brücke über den legendären Jordan. Er hatte auch nicht von oben die ganze Szenerie beobachtet, wie es oft in diesen Berichten beschrieben wurde. Er war nur in eine tiefschwarze Dunkelheit gestürzt, aus der er Tage später wieder aufgewacht war. Er konnte sich nicht einmal erinnern, ob er irgendetwas geträumt hatte. Alles Humbug, dachte er, nichts als romantisierendes Geschwafel im Angesicht der Angst vor Tod und ewigem Nichts. Oder, wie Jirka ihm auf seine Nachfrage erklärt hatte, das übliche Feuern der Neuronen und die Wirkung von Endorphinen auf das Gehirn, das nie wirklich schlief, sondern immer irgendwie arbeitete, bis zum bitteren Ende. Es gibt kein Jenseits, in das die Seele eingeht, hatte Jirka kategorisch erklärt, so wenig, wie es Gespenster, Elfen und gute Feen gibt. Nun, soweit Anděl es beurteilen konnte, musste er Jirka recht geben. Das einzig Reale war das Hier und Jetzt, der Rest bloße Spekulation, durch nichts bestätigt, durch nichts widerlegt. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, wirkte seltsam fremd auf ihn. Als würde ein Gespenst zum ersten Mal sein Spiegelbild sehen. Komischer Gedanke. Vielleicht war es aber auch nur der ungewohnte Bart, er hatte sich seit Tagen nicht rasiert und konnte sich erstaunlicherweise auch jetzt nicht dazu durchringen. Jan Navrátil , dachte er, Felix hatte Humor. Jan Navrátil, der Mann vom Mond – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Aber immerhin einer, der zurückkehren würde, wenn man die Bedeutung des Nachnamens ernst nahm. Der zurückkehren würde in das Leben eines Toten. Der Engel ist im Himmel, hatte Felix gesagt. Nun, es war durchaus angenehm hier an diesem ruhigen Ort. Die Schwestern waren nett, die Ärzte bemüht. Selbst das Essen war gut, wie er inzwischen festgestellt hatte. Er konnte sich wahrhaftig nicht beklagen. Sogar einen Fernseher hatte er auf dem Zimmer, nur nicht das Bedürfnis, die Kiste anzuschalten. Es hatte ihm genügt, seinen eigenen Totenschein zu sehen, er brauchte nicht auch noch die reißerischen Berichte im Fernsehen – falls es solche geben sollte. Er hatte auch kein Bedürfnis, das herauszufinden. Er schaltete das Licht aus und ging zurück in sein kleines Reich. Zwanzig Quadratmeter mit eigenem Bad. Ein Luxus, dessen war er sich bewusst, trotzdem fühlte er sich wie ein eingesperrtes Tier in einem vergoldeten Käfig. Luxuskäfig oder Himmel – für ihn machte das keinen Unterschied. Er wollte hier raus – aber versprochen war versprochen, sosehr es ihn auch nervte. Auf seinem Nachttisch lag ein Stapel Bücher, die Felix für ihn besorgt hatte. Obenauf lag das schmale Bändchen, das er im Sommer gelesen hatte. Der Messerwerfer . Ein Roman in Fragmenten,
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