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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Reich
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absurd, dass er tot gewesen sein sollte, wenn auch nur ein paar Momente lang. Bedeutete Herzstillstand, dass man tot war? Oder war man es erst, wenn das Gehirn den Betrieb einstellte? Er hatte keine Ahnung. Wenn das alles vorbei war, würde er Magda danach fragen. Was sollte seinen Herzstillstand überhaupt verursacht haben? Der Schuss in die Schulter? Aber das seltsame Projektil war an der erstbesten Rippe hängen geblieben, im Grunde war das doch nicht mehr als ein tieferer Kratzer. Aber was wusste er schon von Medizin? Sonst hatte er nur noch diese Platzwunde im Gesicht. Aber Magda hatte versucht, ihn wiederzubeleben. Hatte womöglich die Wucht des Aufpralls dieses Eisgeschosses den Herzstillstand verursacht? Jedenfalls hatte es einen ebenso schmerzhaften wie großen Bluterguss hinterlassen. Er konnte nicht einschätzen, ob so etwas möglich wäre. Vielleicht hatte sich Magda auch geirrt, schoss es ihm durch den Kopf, entsetzt, wie sie gewesen sein musste – vielleicht. Aber spielte das alles überhaupt eine Rolle? David Anděl war tot – es lebe Jan Navrátil, der Mann vom Mond.
    Irgendwo klingelte leise ein Handy. Ein hölzernes, melodisches Klappern wie von diesen Bambuswindspielen für den Garten, die man in jedem Esoterik-Laden kaufen konnte. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es in seinem Zimmer klingelte. Das war sein Handy! Er stand vorsichtig auf, ging zum Schrank hinüber und machte ihn auf. Sein Mantel hing darin und von da schien auch das Klingeln zu kommen, bis es im nächsten Augenblick verstummt war. Er griff in die Innentasche – nichts. Die Manteltaschen waren ebenfalls leer. Litt er inzwischen an Halluzinationen? Eher Wunschdenken, dachte er resigniert. Auf einem anderen Kleiderbügel hing sein Sakko. In der Tasche fand er das Telefon. Auf dem Display stand eine fremde Nummer. Wer auch immer ihn angerufen hatte, er stand nicht in seinem Adressverzeichnis. Nachdenklich ging David mit dem Handy in der Hand zum Fenster, hob das fortgeworfene Buch auf und legte es auf das Fensterbrett. Er würde es der netten Schwester schenken, die ihm sein Essen gebracht hatte, vielleicht hatte sie an so etwas Freude. Die Sonne war hinter einer großen Wolke verschwunden. Durch die dicke, sonst unberührte Schneedecke führten frische Fußspuren vom Gebäude quer durch den Garten zu einem Gebüsch, neben dem er ein kleines Gartentor entdeckte, durch das man auf einen breiten Weg gelangte, der entlang des Waldrands verlief. Das Gartentor war nicht ganz geschlossen, wie ihm auffiel. Ich könnte hinuntergehen, durch den Garten laufen und zum Gartentor hinaus, dachte er. Würde irgendjemand versuchen, mich aufzuhalten? Gute Frage. Er war bereits ein bisschen im Haus umhergelaufen, und niemand hatte sich daran gestört. Vielleicht könnte er auch im Garten spazieren gehen. Und dann? Dann stünde er auf einem Waldweg mitten im Nichts mit nichts als den Kleidern, die er am Leib trug und einem Handy, dessen Batteriestand sich bedenklich dem Aus näherte. Das Ladekabel lag zu Hause. Zu Hause – was würde jetzt eigentlich mit seiner Wohnung geschehen? Mit seinem Auto, mit all seinen Dingen – jetzt, da er tot war. Fragen über Fragen, und niemand da, dem er sie stellen könnte. Hatte Felix über all diese Dinge nachgedacht, bevor er sich diesen Scheintod ausgedacht hatte? Hatte er überhaupt über irgendetwas Praktisches nachgedacht? Mit dem Handy in der Hand lief Anděl wie ein gefangenes Tier im Käfig durch sein kleines Zimmer, vom Fenster zur Tür und wieder zurück, immer wieder, hin und her. Wenn er am Fenster ankam, fiel sein Blick jedes Mal auf das nur angelehnte Gartentor. Dieses kleine schmiedeeiserne Ding zog ihn unwiderstehlich an. Ein Fluchtweg in Reichweite, und er hatte versprochen, hier zu bleiben.
    Seine Gedanken wanderten von dem Gartentor, das er nicht aus den Augen ließ, zu dem vermaledeiten Abend, an dem er Magda vom Flughafen abgeholt hatte. Warum nur hatte er ihr schon im Auto erzählt, dass er ein Problem mit ihr besprechen müsse? Hätte er damit nicht warten können, bis sie in ihrer Wohnung waren? Dann wären sie nicht zu ihm gefahren, dann hätte Eva – oder wer auch immer – nicht auf ihn geschossen, dann säße er jetzt nicht hier und wäre tot für alle Welt. »Verdammte Scheiße«, zischte er und schlug mit der Hand auf das hölzerne Fensterbrett, dass es knackste. Er konnte hier nicht raus, er musste in diesem Sanatorium untätig sitzen bleiben und darauf warten, dass Felix

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