Reise im Mondlicht
sondern warte geduldig. Éva ist, wie
gesagt, ungewöhnlich still.
Plötzlich wird sie blaß, springt auf und beginnt zu kreischen, wir müssen auf den Dachboden und nachsehen, was mit Tamás ist.
Ich verstehe nichts, aber ihr Entsetzen steckt mich an. Auf dem Dachboden ist es schon ziemlich dunkel. Der Ort ist riesig
und verwinkelt, überall geheimnisvolle Lattentüren, die Gänge immer wieder verstellt von Kisten und Brettern, man schlägt
sich den Kopf an den niedrigen Dachbalken an und muß über unerwartete Stufen hinauf- und hinunterrennen. Doch Éva läuft ohne
zu zögern durch das Dunkel,als wisse sie,wo Tamás ist.Am Ende eines Gangs befindet sich eine lange, schmale Kammer, ganz hinten
sieht man die Helligkeit von einem kleinen runden Fenster.Éva bleibt plötzlich stehen und klammert sich schreiend an mich.
Mir klappern auch die Zähne, aber es ist schon seit jeher so, daß mir die größte Angst am meisten Mut macht. Ich betrete die
dunkle Kammer, Éva mitschleppend, die sich immer noch an mich klammert.
Neben dem kleinen runden Fenster hing Tamás,ungefähr einen Meter über dem Boden. ›Er lebt noch, er lebt noch‹, kreischte Éva
und drückte mir ein Messer in die Hand. Also hatte sie gewußt, was Tamás plante. Eine Kiste stand dort, bestimmt war er auf
sie gestiegen,um den Strick am Dachbalken festzumachen.Ich sprang |43| hinauf, schnitt den Strick durch, umfaßte mit dem anderen Arm den hängenden Körper und ließ ihn zu Éva hinunter, die den Strick
von seinem Hals löste.
Tamás kam bald zu sich, er hatte sicher nur kurz da gehangen, es fehlte ihm nichts. ›Warum hast du mich verraten?‹ fragte
er Éva. Sie gab keine Antwort, sie schämte sich.
Einige Zeit später fragte ich ihn vorsichtig, warum er das getan hatte.
›Ich wollte wissen, wie es ist‹, sagte er lakonisch.
›Und wie ist es?‹ fragte Éva mit neugierig geweiteten Augen.
›Sehr gut.‹
›Macht es etwas, daß wir dich losgeschnitten haben?‹ fragte ich und hatte auch schon Gewissensbisse.
›Nein. Ich habe ja Zeit. Auf ein andermal.‹
Tamás vermochte damals noch nicht zu erklären, was er eigentlich wollte. Aber das war auch nicht nötig, ich verstand es auch
so, dank unserer Spiele. Wir mordeten und starben ja dabei die ganze Zeit. All die Dramen drehten sich nur ums Sterben, es
war für Tamás eine Dauerbeschäftigung. Aber versteh mich richtig, sofern man es überhaupt verstehen kann: Es ging nicht um
Tod, Verwesung und Auflösung. Sondern um den Vorgang des Sterbens. Es gibt Menschen, die ›aus unwiderstehlichem Zwang‹ immer
wieder einen Mord begehen, um die glühende Lust des Mordens zu erfahren. Ein solcher Zwang trieb Tamás zur letzten Ekstase
seines eigenen Sterbens. Ich kann dir das wahrscheinlich nicht begreiflich machen, so wie man jemandem, der unmusikalisch
ist, die Musik nicht erklären kann. Ich hingegen konnte die Sache nachvollziehen.Tamás und ich sprachen jahrelang nicht mehr
von der Angelegenheit, wußten aber, daß wir einander verstanden.
Als wir zwanzigjährig waren, kam der zweite Versuch, an dem ich nun auch teilnahm. Erschrick nicht, du siehst ja, ich lebe
noch.
Damals war ich sehr verbittert, vor allem wegen meines Vaters. Nach dem Abitur hatte ich mich an der philosophischen Fakultät
eingeschrieben. Mein Vater fragte mehrmals, was ich denn werden wollte, worauf ich antwortete: Religionswissenschaftler. ›Und
wovon willst du leben?‹ fragte mein Vater. Darauf wußte ich keine |44| Antwort, mochte gar nicht darüber nachdenken. Mein Vater wollte, daß ich im Unternehmen arbeite. Gegen meine Universitätsstudien
hatte er nichts einzuwenden, denn er dachte, es würde dem Unternehmen zur Ehre gereichen, wenn eine der Führungskräfte den
Doktortitel hatte. Im Grunde betrachtete auch ich die Universität als einen Aufschub. Als ein Zeitschinden, bevor man erwachsen
werden mußte.
Die Lebensfreude war in dieser Zeit nicht meine Stärke. Das Untergangsgefühl wurde immer heftiger, und damals bedeutete auch
der Katholizismus keine Tröstung mehr, sondern machte mir im Gegenteil meine Schwäche noch mehr bewußt. Da ich keine Neigung
zum Rollenspiel hatte, sah ich schon damals die unüberwindliche Entfernung zwischen meinen Anlagen und den katholischen Lebensidealen.
Ich war der erste in unserer Gruppe, der dem Katholizismus den Rücken kehrte. Das war einer von zahlreichen Verraten.
Eines Nachmittags stellte ich mich wieder
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