Reise im Mondlicht
ich auf der Notfallstation, wo man mir unbarmherzig den Magen ausspülte und jegliche Lust am Selbstmord
nahm. Im übrigen komme ich nicht vom Gedanken los, daß wir gar nicht Morphium geschluckt hatten. Entweder hatte Éva Tamás
hereingelegt oder der Arzt Éva. Tamás’ Übelkeit konnte auch Autosuggestion sein.
Éva und die beiden Jungen mußten die ganze Nacht aufpassen, daß wir nicht einschliefen, denn auf der Notfallstation hatte
es geheißen, wenn wir einschliefen, würden wir nicht mehr erwachen. Es war eine seltsame Nacht.Wir waren alle sehr verlegen;
aber ich war auch glücklich, weil ich Selbstmord begangen hatte, eine große Sache, und ebenso glücklich war ich, noch am Leben
zu sein. Ich fühlte eine unglaublich angenehme Müdigkeit. Wir liebten |47| uns alle sehr, ihre Wache war eine große, aufopfernde Geste, die ausgezeichnet zu unserer damaligen religiösen Schwärmerei
und zur Vorstellung von edler Freundschaft paßte.Wir waren erschüttert, führten Gespräche à la Dostojewski und tranken einen
Kaffee nach dem anderen. Es war so eine typische Jugendnacht, an die man sich als Erwachsener nur mit Ekel erinnert. Aber
weiß der Kuckuck, offenbar bin ich schon alt, denn ich empfinde keinerlei Ekel, sondern bloß eine große Nostalgie.
Nur Tamás sagte in jener Nacht kein Wort und ließ es einfach über sich ergehen, daß wir ihn mit kaltem Wasser bespritzten
und ihn kniffen, damit er ja nicht einschlief. Er fühlte sich tatsächlich nicht gut, und außerdem war er niedergeschmettert,
weil es wieder nicht gelungen war.Wenn ich ihn anredete, wandte er sich ab und antwortete nicht. Er sah mich als Verräter
an. Danach waren wir nicht mehr so gute Freunde. Später erwähnte er diese Episode nie, er war höflich und freundlich wie immer,
aber ich weiß, daß er mir nicht verziehen hat. Als er starb, gehörte ich nicht mehr zu seinen engen Vertrauten …«
Mihály verstummte und verbarg das Gesicht in den Händen. Dann stand er auf und starrte durch das Fenster ins Dunkel hinaus.
Kam zurück und streichelte Erzsis Hand mit einem zerstreuten Lächeln.
»Tut das immer noch so weh?« fragte Erzsi leise.
»Ich habe seither keinen Freund gehabt«, sagte Mihály.
Wieder schwiegen sie. Erzsi dachte darüber nach, ob sich Mihály nur in weinseliger Sentimentalität so leid tat, oder ob in
ihm damals wirklich etwas zerbrochen und er seither so distanziert und gleichgültig war.
»Und Éva?« fragte sie schließlich.
»Die war damals in Ervin verliebt.«
»Und ihr wart nicht eifersüchtig?«
»Nein, wir fanden es natürlich. Ervin war die herausragende Figur, das fühlten wir, und es schien uns richtig, daß Éva ihn
liebte. Ich war sowieso nicht verliebt in Éva, und bei János konnte man überhaupt nie sicher sein. Die Gruppe war auch schon
ein bißchen am Zerfallen. Ervin und Éva waren sich je länger je mehr |48| genug, und sie suchten die Gelegenheiten, uns abzuhängen. Mich hingegen begannen die Universität und die Religionsgeschichte
ehrlich zu interessieren. Ich war gepackt von wissenschaftlichem Ehrgeiz; die erste Begegnung mit der Wissenschaft ist ja
so berauschend wie die Liebe.
Doch um auf Ervin und Éva zurückzukommen … Éva wurde in jener Zeit viel stiller, sie ging zur Messe, bei den Englischen Fräulein, wo sie auch zur Schule gegangen war.Wie
ich schon gesagt habe, hatte Ervin eine ganz besondere Veranlagung für die Liebe; sie gehörte zu ihm wie das Abenteurertum
zu Szepetneki. Ich konnte durchaus verstehen, daß da nicht einmal Éva kalt blieb. Es war eine rührende Liebe, durchtränkt
mit Gedichten, Spaziergängen auf der Burg und Zwanzigjährigkeit, so daß ich fast schon erwartete, die Leute würden den beiden
respektvoll Platz machen, so wie wenn das Allerheiligste durch die Straßen getragen wird.Wir jedenfalls begegneten dieser
Liebe mit grenzenloser Hochachtung. Irgendwie vollzog sich darin der Sinn unseres ganzen Zusammenseins. Und wie kurz sie dennoch
war! Wie es genau zuging, habe ich nie erfahren, aber anscheinend hielt Ervin um Évas Hand an und wurde vom alten Ulpius rausgeschmissen.
Und sogar geohrfeigt, wenn man János glauben will. Éva aber liebte Ervin um so mehr und wäre bestimmt gern seine Geliebte
geworden, doch Ervin hielt sich eisern an das sechste Gebot. Er wurde noch blasser, noch schweigsamer und kam nicht mehr ins
Ulpius-Haus; ich sah ihn kaum mehr. Und in Éva muß damals die große
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