Reise im Mondlicht
mir, nie mehr einen Tropfen anzurühren. Und dann trank
ich wieder, und immer mehr wuchs in mir das Bewußtsein, daß ich schwach war; es kam mir ein Untergangsgefühl, das den zweiten
Teil der Ulpius-Zeit dominierte. Ich hatte das Gefühl, ›in mein Unglück zu rennen‹, besonders beim Trinken hatte ich es. Das
Gefühl, ich falle gänzlich aus dem geordneten Leben heraus, aus dem Leben, das anständige Menschen führen und mein Vater von
mir erwartete. Trotz schrecklicher Gewissensbisse liebte ich dieses Gefühl. Und um meinen Vater machte ich einen Bogen.
Tamás trank wenig und wurde dabei immer schweigsamer.
Dann begann Ervins Religiosität auf mich zu wirken. Die Welt, die Realität, vor der wir uns bis dahin verschlossen hatten,
zeigte sich uns jetzt doch und erschreckte uns. Wir merkten, daß man nicht leben kann, ohne sich die Hände schmutzig zu machen,
und wir hörten Ervin andächtig zu, wenn er sagte, das dürfe nicht geschehen. Auch wir begannen das Leben streng und dogmatisch
zu beurteilen, so wie er. Eine Zeitlang war er der Platzhirsch, wir folgten ihm in allem, und János und ich versuchten einander
mit guten Taten auszustechen. Täglich entdeckten wir neue Unglückliche, denen man helfen mußte, und neue große katholische
Schriftsteller, die wir vor dem Vergessen bewahrten. Die Namen von Thomas von Aquin und Jacques Maritain, Chesterton und Sankt
Anselm von Canterbury flogen im Zimmer umher wie |41| Fliegen. Wir gingen zur Messe, und János hatte selbstverständlich Visionen. Einmal schaute in der Morgenfrühe der Heilige
Dominikus bei ihm zum Fenster herein und sagte mit erhobenem Zeigefinger: Auf dich haben wir ein besonderes Augenmerk. János
und ich müssen in dieser Zeit unwiderstehlich komisch gewesen sein. Die beiden Ulpius hingegen ließen den Katholizismus mehr
oder weniger auf sich beruhen.
Diese Zeit dauerte ungefähr ein Jahr, dann folgte der Zerfall. Womit er begann, läßt sich nicht genau sagen, irgendwie strömte
allmählich die Alltagsrealität herein und mit ihr das Zersetzende. Es starb der Großvater Ulpius, nach wochenlangem Leiden,
unter Röcheln und Atemnot. Éva pflegte ihn mit erstaunlicher Geduld, wachte die ganze Nacht an seinem Bett. Als ich ihr später
einmal sagte, das sei schön gewesen von ihr, lächelte sie zerstreut und meinte, es sei eben sehr interessant, jemandem beim
Sterben zuzuschauen.
Dann beschloß Vater Ulpius, mit seinen Kindern müsse etwas geschehen, so gehe es nicht weiter. Éva wollte er so rasch wie
möglich verheiraten. Er schickte sie aufs Land zu einer Tante, die ein großes Haus führte, damit sie dort an Bällen und anderen
Lustbarkeiten teilnahm. Éva war natürlich nach einer Woche wieder da, gab tolle Geschichten zum besten und kassierte gelassen
die väterlichen Ohrfeigen. Tamás hatte kein so glückliches Naturell. Sein Vater steckte ihn in ein Büro. Grauenhafter Gedanke,
noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke, was Tamás in dem Büro zu leiden hatte. Er arbeitete in der Stadtverwaltung,
zwischen gewöhnlichen Kleinbürgern, die ihn für nicht normal hielten. Man gab ihm die stupidesten, schablonenhaftesten Arbeiten
zu verrichten, weil man nicht annahm, daß er etwas erledigen konnte, das selbständiges Denken erfordert. Vielleicht hatten
sie ja recht. Er mußte von den Kollegen sehr viele Demütigungen über sich ergehen lassen: sie plagten ihn zwar nicht, aber
sie bemitleideten und schonten ihn. Tamás beklagte sich nie bei uns, nur hin und wieder bei Éva, soviel ich weiß. Er wurde
einfach bleich und verstummte, wenn wir das Amt erwähnten.
|42| Zu dieser Zeit machte Tamás seinen zweiten Selbstmordversuch.«
»Den zweiten?« fragte Erzsi.
»Ja. Vom ersten hätte ich eigentlich schon erzählen sollen. Denn der war wichtiger und schrecklicher. Das war noch zu Anfang
unserer Freundschaft gewesen, als wir sechzehn waren. Das war so: Eines Tages stelle ich mich bei ihnen ein, wie gewöhnlich.
Finde Éva allein vor, die etwas zeichnet, ungewohnt vertieft. Sie sagt, Tamás sei auf den Dachboden gestiegen, ich solle warten,
er komme gleich wieder.Tamás unternahm damals häufige Expeditionen auf den Dachboden, er fand dort viel alten Plunder, der
seine nostalgische Phantasie beflügelte und den wir bei unseren Spielen verwenden konnten. Und überhaupt ist der Dachboden
eines so alten Hauses ein hochromantischer Ort. Ich bin also überhaupt nicht erstaunt,
Weitere Kostenlose Bücher