Reise im Mondlicht
vergessen hatte, begann zurückzusickern.
Er nahm in einem billigen Albergo ein billiges Zimmer – eine große Auswahl gab es in diesem kleinen Ort sowieso nicht –, und machte noch einen Spaziergang. Der Mond war von Wolken verdeckt, es war dunkel, und die Gassen der schwarzen Stadt
verengten sich bedrohlich um ihn, statt ihn zu umarmen wie die rosaroten Gäßchen Venedigs. Irgendwie gelangte er in einen
Teil der Stadt, wo es immer dunkler und enger wurde, die Freitreppen führten zu immer mehrdeutigeren Türen, Menschen sah man
keine mehr, verirrt hatte er sich auch, und da merkte er plötzlich, daß ihm jemand folgte.
Er drehte sich um: Der Betreffende kam gerade um die Ecke, eine hochgewachsene, dunkel gekleidete Gestalt. Mihály wurde von
unsäglicher Angst ergriffen, und er rannte plötzlich in ein Gäßchen hinein, das noch dunkler und schmaler war als die bisherigen.
Und es war eine Sackgasse, Mihály mußte umkehren, und da stand der Unbekannte schon am Eingang der Gasse. Mihály ging zögernd
auf ihn zu und blieb dann entsetzt stehen, als er den Fremden besser sah. Dieser trug einen kurzen, rundgeschnittenen schwarzen
Paletot, wie sie im vorigen Jahrhundert Mode gewesen waren, darüber einen weißen Seidenschal und auf seinem alten, über und
über runzeligen, weichen, bartlosen Gesicht ein höchst sonderbares Lächeln. Er breitete die Arme aus und schrie mit Fistelstimme:
»Zacomo!« oder so was Ähnliches.
|78| »Bin ich nicht«, sagte Mihály, und das sah der Fremde auch ein, worauf er sich nach heftigen Bitten um Entschuldigung entfernte.
Das höchst sonderbare Lächeln auf dem Gesicht des Alten war, wie Mihály jetzt sah, ganz einfach nur idiotisch.
Doch daß sein Abenteuer auf einer gänzlich unbegründeten Angst beruht und einigermaßen komisch geendet hatte, beruhigte ihn
nicht. Im Gegenteil, da er in allem ein Symbol zu sehen pflegte, schloß er auch aus dieser dummen Episode, daß man ihn verfolgte.
In panischer Angst suchte er den Weg ins Hotel zurück, stürzte in sein Zimmer hinauf, schloß die Tür ab und schob eine Truhe
davor. Auch so war das Zimmer noch beängstigend. Erstens war es zu groß für einen einzigen Menschen, zweitens hatte sich Mihály
noch nicht damit anfreunden können, daß in Italien die Zimmer kleiner Hotels einen Steinfußboden haben – er fühlte sich wie
ein Kind, das man in die Küche verbannt hat, eine so schreckliche Strafe, daß sie ihm gar nie auferlegt worden war. Drittens
stand das Hotel am Rand des Bergstädtchens, und unter dem Fenster fiel die Felswand über zweihundert Meter ab. Und völlig
unbegreiflicherweise gab es neben dem Fenster auch noch eine Glastür. Irgendwann war davor vielleicht ein Balkon gewesen,
aber den hatte man wohl schon längst abgebrochen, oder er war in dumpfer Gleichgültigkeit von selbst in die Tiefe gestürzt,
und so war nur noch die Tür da, und sie ging ins Leere, zweihundert Meter über dem Abgrund. Für Selbstmordkandidaten hätte
das Zimmer den sicheren Tod bedeutet, dieser Tür hätten sie nicht widerstanden. Und zu alldem hing an den unermeßlichen Wänden
nur ein einziges Bild, das aus irgendeiner Illustrierten stammte und eine stockhäßliche Frau darstellte, die nach der Mode
der Jahrhundertwende gekleidet war und einen Revolver in der Hand hielt.
Mihály stellte fest, daß er auch schon in behaglicherer Umgebung geschlafen hatte, aber noch mehr als die Umgebung beunruhigte
ihn die Tatsache, daß sein Paß unten lag, bei dem abweisenden und gleichzeitig duckmäuserisch wirkenden Hotelwirt, der auf
Mihálys schlauen Vorschlag, er wolle das Anmeldeformular selbst ausfüllen, da doch sein Paß in einer unverständlichen Sprache |79| geschrieben sei, nicht eingegangen war. Der Wirt bestand darauf, daß der Paß für die Dauer von Mihálys Aufenthalt bei ihm
blieb. Offenbar hatte er so seine Erfahrungen. Überhaupt war das Hotel von der Art, daß man annehmen konnte, sein Wirt habe
schon einiges erlebt. Tagsüber kamen wahrscheinlich lauter heruntergekommene Vertreter hierher, nachts spielten in der Sala
da pranzo genannten, nach Küche riechenden Räumlichkeit die Geister von Pferdedieben unter Gelächter Karten …
Aber wie auch immer, der Paß war in jedem Fall eine Waffe gegen Mihály, dessen Name auf diese Art den Verfolgern preisgegeben
war, und zu fliehen und den Paß zurückzulassen wäre genauso unangenehm gewesen wie in Unterhosen davonzurennen, wie
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