Reise im Mondlicht
muß.
Hier ist alles maßvoll, alles nach menschlichem Zuschnitt.«
Millicent dachte nach.
»Woher weißt du, wie hoch ein Berg sein muß?« fragte sie.
Über einem der Tore lautete die Inschrift:
Cor magis tibi Sena pandit
, Siena weitet dir dein Herz … Hier redeten sogar die Tore weise: Siena weitet dein Herz, damit es sich mit dem schlichten und leichten Zauber des Lebens
und mit Sehnsucht fülle, so wie es der verschleierten Schönheit der Jahreszeit gebührt.
In der Morgenfrühe des nächsten Tags stellte sich Mihály ans Fenster und starrte hinaus. Das Fenster ging auf die Landschaft,
in Richtung der Berge. Leichte violette Nebel schwammen über dem toskanischen Land, und nur langsam und zögernd kündigte Goldfarbe
den Tag an. Sonst war da nichts, nur dieser violettgoldene Dämmer vor den fernen Bergen.
Wenn diese Landschaft die Wirklichkeit ist, dachte er, wenn es diese Schönheit tatsächlich gibt, dann ist alles, was ich bisher
gemacht habe, eine Lüge. Und diese Landschaft ist wirklich.
Er sagte laut die Verse von Rilke:
Denn da ist keine Stelle,
Die dich nicht ansieht. Du mußt dein Leben ändern.
Dann drehte er sich erschrocken nach Millicent um, aber die schlief ungestört weiter. Und er merkte plötzlich, daß sie keinerlei
Realität besaß. Sie war nicht mehr als ein Vergleich, der einem zufällig in den Sinn kommt. Sonst nichts. Nichts.
Cor magis tibi Sena pandit.
Auf einmal überfiel ihn eine heftige Sehnsucht, wie er sie nur ganz jung gekannt hatte, jetzt aber war |105| sie reflektierter und brennender: Er sehnte sich nach der Sehnsucht seiner Jugend, und zwar so sehr, daß er aufschrie. Jetzt
wußte er, daß das Abenteuer, der Rückfall in die Wanderjahre, nur eine Stufe war, über die er noch weiter hinunter mußte,
noch tiefer hinab in seine Vergangenheit, seine eigene Geschichte. Die fremde Frau blieb fremd, so wie die Wanderjahre bloß
ein nutzloses Umherstreunen gewesen waren, während er hätte nach Hause gehen sollen, zu jenen, die ihm nicht fremd waren.
Nur waren die … schon lange tot, verweht von allen Winden der Welt. Millicent wachte auf, als Mihály schluchzend seinen Kopf in ihre Schulter
grub. Sie schnellte hoch und fragte entgeistert:
»Was ist, Mike? Was hast du?«
»Nichts«, sagte Mihály, »ich habe geträumt, ich sei ein kleiner Junge, und ein großer Hund kommt und frißt mein Butterbrot.«
Er umarmte Millicent und zog sie an sich.
An dem Tag hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Er ließ das Mädchen die Sieneser Primitiven allein studieren, und am Mittag
hörte er ihr nur mit halbem Ohr zu, während sie ihre umwerfenden Dummheiten von sich gab.
Am Nachmittag blieb er zu Hause, lag angezogen auf dem Bett.
… Was nützt die ganze Zivilisation, wenn wir das vergessen haben, was der hinterste Negerstamm kann: die Toten herbeibeschwören …
So fand ihn Millicent.
»Hast du Fieber?« fragte sie und legte ihm ihre schöne, große Hand auf die Stirn. Mihály kam von dieser Berührung ein wenig
zu sich.
»Laß uns spazierengehen, Mike. Es ist ein so wunderschöner Abend. Und alle Italiener sind auf der Straße, und alle haben sechs
Kinder, mit phantastischen Namen wie Emerita und Assunta. Und es gibt welche, die sind ganz klein und heißen schon Annunziata.«
Er rappelte sich hoch, und sie gingen hinaus. Mihály bewegte sich unsicher und mit Mühe, er sah alles durch einen Schleier,
und in seinen Ohren war Wachs, das die Töne des italienischen Abends dämpfte. Seine Beine waren bleischwer. Das Gefühl kannte
er doch. Woher bloß?
|106| Sie gelangten auf den Campo, und Mihály starrte auf den Torre del Mangia, den mehr als hundert Meter hohen Turm des Stadthauses,
der sich wie eine Nadel in den Abendhimmel bohrte. Sein Blick folgte ihm langsam bis in schwindelerregende Höhe, und der Turm
selbst schien den schallenden, dunkelblauen Gefilden des Himmels entgegenzuwachsen.
Da passierte es. Neben dem Brunnen tat sich die Erde auf, der Wirbel war wieder da. Es dauerte nur einen Augenblick, dann
war alles wieder an seinem Platz und der Torre del Mangia einfach ein sehr hoher Turm. Millicent hatte nichts gemerkt.
Doch in der Nacht, nachdem sich ihre Körper gesättigt voneinander gelöst hatten und Mihály in der schweren Einsamkeit zurückblieb,
die sich einstellt, wenn man eine Frau umarmt hat, die einen nichts angeht, tat sich wieder der Wirbel auf (oder dachte er
nur an ihn?). Jedenfalls dauerte er sehr
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