Reise im Mondlicht
erzählen, weil Sie dann vielleicht überzeugt sind. Es geht nämlich genau um diesen Mönch.«
»Lassen Sie hören.«
»Wissen Sie, ich war in Gubbio Stadtarzt, bevor ich hier ans Krankenhaus kam. Einmal wurde ich zu einer Kranken gerufen, die
offenbar ein schweres Nervenleiden hatte. Sie wohnte in der Via dei Consoli, einer ganz und gar mittelalterlichen Straße,
in einem dunklen alten Haus. Es war eine junge Frau, keine Einheimische |109| , nicht einmal Italienerin, sondern von weiß Gott woher. Jedenfalls sprach sie gut Englisch. Eine sehr schöne Frau. Die Hausbesitzer,
deren zahlender Gast sie war, sagten, sie werde seit einiger Zeit von Halluzinationen heimgesucht. Es sei ihre fixe Idee,
daß die Totentür nicht geschlossen sei.«
»Die was?«
»Die Totentür. Diese mittelalterlichen Häuser von Gubbio haben nämlich zwei Türen. Eine gewöhnliche für die Lebenden und daneben
eine schmalere für die Toten. Diese Tür wird nur aufgebrochen, wenn der Sarg aus dem Haus getragen wird. Dann wird sie wieder
zugemauert, damit die Toten nicht zurückkommen können. Denn die Toten können ja nur dort zurückkommen, wo sie hinausgegangen
sind. Und die Tür befindet sich nicht auf Straßenhöhe, sondern ungefähr einen Meter darüber, damit man den Sarg hinausreichen
kann. Die Dame, von der ich rede, wohnte in einem solchen Haus. Eines Nachts erwacht sie, weil die Totentür aufgeht und jemand
hereinkommt, jemand, den sie sehr geliebt hat und der vor langer Zeit gestorben ist. Und von da an kam der Tote jede Nacht.«
»Na, dem hätte man leicht abhelfen können, die Dame hätte ausziehen sollen.«
»Das haben wir auch gesagt, aber sie wollte nicht. Sie war über die Besuche des Toten sehr glücklich. Den ganzen Tag lag sie
im Bett, so wie Sie, und wartete auf die Nacht. Unterdessen magerte sie rapide ab, und die Hausbewohner machten sich große
Sorgen um sie. Und sie waren auch nicht gerade erfreut, daß jede Nacht Männertotenbesuch kam. Es war eine Patrizierfamilie
von strengen Sitten. Mich hatten sie eigentlich gerufen, damit ich als ärztliche Respektsperson die Dame überrede auszuziehen.«
»Und was haben Sie gemacht?«
»Ich habe versucht, der Dame zu erklären, daß sie Halluzinationen habe und eine Kur brauche, aber sie lachte mich aus. ›Halluzinationen,
ach was‹, sagte sie, ›er ist wirklich jede Nacht hier, so echt und unzweifelhaft wie jetzt Sie. Wenn Sie es nicht glauben,
so bleiben Sie hier und schauen Sie selbst.‹«
»Das wollte mir nicht recht gefallen, ich bin ja für Derartiges ein |110| bißchen zu empfänglich, aber es blieb mir nichts anderes übrig, ich mußte bleiben, in Erfüllung meiner ärztlichen Pflicht.
Im übrigen war die Wartezeit gar nicht unangenehm, die Dame war weder verstört noch überdreht, sondern gab sich völlig gefaßt,
um nicht zu sagen kokett, worauf ich mir aber gar nichts einbilden möchte … Ich hatte schon beinahe vergessen, warum ich eigentlich da war und daß es auf Mitternacht ging. Doch plötzlich packte sie
meine Hand, nahm mit der anderen Hand einen Leuchter und führte mich ins Erdgeschoß, in den Raum mit der Totentür.
Ich muß gestehen, ich habe den Toten nicht gesehen. Aber aus eigenem Verschulden: Ich bekam kalte Füße. Alles, was ich spürte,
war ein eisiger Luftzug, in dem die Flamme des Leuchters flackerte. Und außerdem spürte ich, spürte es mit dem ganzen Körper,
daß noch jemand im Zimmer war. Da wurde es mir, ehrlich gesagt, zuviel, und ich stürzte hinaus, nach Hause, schloß die Tür
ab und zog mir die Decke über den Kopf. Natürlich werden Sie sagen, ich sei der Suggestionskraft der Dame erlegen. Mag sein …«
»Und was geschah mit der Dame?«
»Ach ja, genau das wollte ich gerade erzählen. Als man sah, daß ein Arzt, jedenfalls einer wie ich, da nicht helfen konnte,
ließ man Pater Severinus vom Kloster Sant’ Ubaldo kommen. Dieser Pater ist ein sonderbarer, heiliger Mensch. Er ist aus einem
fernen Land nach Gubbio gekommen, niemand weiß woher. In der Stadt sieht man ihn sehr selten, nur an hohen Festtagen und bei
Beerdigungen, sonst kommt er nie vom Berg herunter, wo er in strenger Askese lebt. Aber man überredete ihn irgendwie, zu kommen
und die kranke Dame zu besuchen. Es muß eine erschütternde, dramatische Begegnung gewesen sein. Die Dame habe aufgeschrien
und sei zusammengebrochen, als sie Pater Severinus erblickte. Auch der Pater sei blaß geworden und habe
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