Reise im Mondlicht
Gesicht, zwischen den Ästen eines Baums …
Er steckte die Hände in die Taschen und machte sich rasch auf den Heimweg. Am nächsten Tag würde er nach Hause fahren. Heute
ging es nicht mehr, denn Tivadars Brief war um die Mittagszeit gekommen, und er mußte bis zum nächsten Morgen warten, um den
Scheck einzulösen und Millicent das Geld zu schicken. Das war sein letzter Abend in Rom; er schlenderte noch hingegebener
durch die Straßen, und er fand alles noch bedeutungsvoller.
Abschied von Rom. Nicht von einzelnen, besonders geliebten Gebäuden, sondern vom Ganzen, vom größten Stadterlebnis seines
Lebens. Er irrte ziellos und verzweifelt umher, in dem Gefühl, daß die Stadt noch Tausende von wunderbaren Einzelheiten barg,
die er nie sehen würde, und wieder fühlte er, daß die wichtigen Dinge anderswo waren und nicht dort, wo er sich bewegte. Und
auch das geheime Zeichen hatte er nicht empfangen, sein Weg führte nirgendwohin, und so würde seine Sehnsucht auf ewig |153| quälend, auf ewig unbefriedigt bleiben, bis auch er gehen würde
Cestius’ Mal vorbei, leise zum Orcus hinab …
Es dunkelte. Mihály lief gesenkten Kopfes umher und achtete auch kaum mehr auf die Straßen, als er in einer dunklen Gasse
mit jemandem zusammenstieß, der »sorry« sagte. Auf das englische Wort hin riß Mihály den Kopf hoch und sah vor sich den jungen
Engländer, der ihm an Keats’ Grab so seltsam vorgekommen war. Mihály machte wohl ein komisches Gesicht, denn der Engländer
lüftete den Hut, murmelte etwas und hastete weg. Mihály drehte sich um und starrte ihm nach.
Nur einen Augenblick lang, dann lief er ihm, ohne zu überlegen, entschlossenen Schrittes hinterher. In seiner Kindheit war
es, unter dem Einfluß der Kriminalromane, seine Lieblingsbeschäftigung gewesen, sich fremden Menschen plötzlich an die Fersen
zu heften, stundenlang, unentdeckt. Aber er lief nicht jedem Beliebigen nach. Der Betreffende mußte irgendwie bedeutungsvoll
sein, durch ein kabbalistisches Zeichen, so wie dieser junge Engländer; es konnte ja kein Zufall sein, daß er ihm in dieser
großen Stadt am selben Tag zweimal begegnete, und erst recht an einem so bedeutungsschweren Tag. Dahinter steckte etwas, dem
man nachgehen mußte.
Mit der Aufregung eines Detektivs folgte er dem Engländer durch die engen Straßen auf den Corso Umberto hinaus. Noch immer
besaß er die Fertigkeit, dem anderen wie ein Schatten zu folgen. Der Engländer ging eine Zeitlang auf dem Corso auf und ab
und setzte sich dann auf die Terrasse eines Cafés. Auch Mihály setzte sich, trank einen Wermut und beobachtete den Engländer
aufgeregt. Er wußte, daß jetzt etwas geschehen würde. Auch der Engländer schien nicht mehr so ruhig und ausdruckslos wie an
Keats’ Grab. Unter seinen gleichmäßigen Gesichtszügen und der erschreckend makellosen Haut schien doch irgendwie Leben zu
pulsieren. Die perfekte englische Oberfläche war von der Unruhe natürlich nur gestreift, so wie ein Teich von einem Vogelflügel,
aber unruhig war er doch. Mihály wußte, daß der Engländer jemanden erwartete, und auch auf ihn griff die Unruhe des Wartens
über und verstärkte sich noch, wie ein Ton im Megaphon.
|154| Der Engländer begann auf die Uhr zu sehen, und Mihály hielt es auf seinem Platz kaum mehr aus, rutschte umher, bestellte noch
einen Wermut, dann einen Maraschino, zu sparen brauchte er ja nicht mehr, morgen fuhr er heim.
Endlich hielt ein elegantes Auto vor dem Café, die Tür ging auf, und eine Frau schaute heraus. Der Engländer schnellte hoch,
und schon saß er im Wagen, der lautlos davonglitt.
Das Ganze hatte nur einen Augenblick gedauert, die Frau war in der Autotür kaum sichtbar gewesen, und doch hatte Mihály in
ihr, eher intuitiv als mit den Augen, Éva Ulpius erkannt. Auch er war aufgesprungen, und es hatte ihn gedünkt, Évas Blick
streife ihn kurz, ja, als sei auf ihrem Gesicht ein dünnes Lächeln erschienen, aber das alles nur eine Sekunde lang, dann
war Éva im Auto und im Abend verschwunden.
Mihály zahlte und taumelte aus dem Café hinaus. Die Zeichen hatten nicht getrogen, deshalb hatte er nach Rom kommen müssen,
weil Éva hier war. Jetzt wußte er auch, daß seine Sehnsucht hier mündete: Éva, Éva …
Und ebenso wußte er, daß er nicht nach Hause fahren würde. Und wenn er Säcke schleppen und fünfzig Jahre warten mußte, auch
dann nicht. Jetzt, da es endlich einen Ort auf der Welt
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