Reise im Mondlicht
weltberühmte
ungarische Altphilologe und Religionshistoriker, in der Accademia Reale einen Vortrag gehalten hatte, mit dem Titel
Aspetti della morte nelle religioni antiche
. Der feurige italienische Journalist feierte den Vortrag als etwas, das ein ganz neues Licht nicht nur auf den antiken Todesbegriff,
sondern überhaupt auf den Tod geworfen hatte, während er gleichzeitig auch ein wichtiges Zeugnis für die italienisch-ungarische
Freundschaft war. Das Publikum habe dem herausragenden Professor zugejubelt, von dessen Jugend es ebenfalls begeistert gewesen
sei.
Dieser Waldheim kann niemand anderer sein als Rudi Waldheim, dachte Mihály, und ein angenehmes Gefühl durchlief ihn, denn
er hatte Rudi Waldheim einmal sehr gemocht. Sie waren zusammen auf der Universität gewesen. Zwar waren sie beide nicht von
der fraternisierenden Sorte – Mihály war es nicht, weil er auf alle hinabsah, die nicht im Ulpius-Haus verkehrten, Waldheim war es nicht, weil er das
Gefühl hatte, im Vergleich zu ihm seien alle ignorant, oberflächlich und billig –, und doch hatte sich über die Religionsgeschichte eine Art Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Sehr haltbar war sie
allerdings nicht. Waldheim wußte schon damals ungeheuer viel, las in allen Sprachen alles, was gelesen werden mußte, erklärte
es sehr gern und sehr gut dem ebenso gern zuhörenden Mihály, doch dann fand er heraus, daß |158| Mihálys religionsgeschichtliches Interesse nicht sehr tief reichte, er spürte in ihm den Dilettanten und zog sich mißtrauisch
zurück. Mihály hingegen war gerade von Waldheims unglaublicher Fachkenntnis überwältigt,er dachte,wenn ein Junggelehrter schon
so viel wußte, wieviel mußte dann erst ein gestandener Religionshistoriker wissen, und so verließ ihn der Mut. Überhaupt gab
er seine Studien bald auf. Waldheim hingegen ging nach Deutschland, um sich zu Füßen der großen Meister zu vervollkommnen,
und so brach der Kontakt ab. Jahre später erfuhr Mihály durch die Zeitungen von den einzelnen Stationen in Waldheims steiler
Karriere, und als Waldheim Universitätsprofessor wurde, war er nahe daran, ihm einen Gratulationsbrief zu schreiben, unterließ
es dann aber doch. Persönlich trafen sie sich nie mehr.
Jetzt, da er seinen Namen las, kam ihm die spezielle Liebenswürdigkeit Waldheims in den Sinn, die er zwischendurch völlig
vergessen hatte: die foxterrierhafte Lebhaftigkeit seines kahlgeschorenen, glänzenden Kopfes, sein unglaublicher Wortreichtum,
denn Waldheim gab fortwährend laute, in fehlerfreie lange Sätze gefaßte und fast immer interessante Erläuterungen von sich,
wahrscheinlich sogar noch im Traum. Seine unverbrüchliche Vitalität, sein ewiger Appetit auf Frauen, mit dem er sich auch
auf Kolleginnen stürzte, die gar nicht so anziehend waren; und vor allem seine Eigenschaft, die er nach Goethe, aber etwas
unwillig »Ergriffenheit« nannte:nämlich daß die Wissenschaft, ihre Einzelheiten und das abstrakte Ganze, der Geist als solcher,
ihn ständig auf Hochtouren hielt; nie war er gleichgültig, sondern immer fieberhaft mit etwas beschäftigt, betete gerade eine
große, uralte Manifestation des Geistes an oder haßte einen »oberflächlichen«, »billigen«, »niveaulosen« Blödsinn, und immer
geriet er von dem Wort »Geist« in Trance. Es mußte für ihn eine besondere Bedeutung haben.
Die Erinnerung an Waldheims Vitalität wirkte unverhofft belebend auf Mihály. Das plötzlich über ihn hereinbrechende Bedürfnis,
Waldheim wenigstens kurz zu sehen, machte ihm auf einmal bewußt, wie unermeßlich einsam er in den vergangenen Wochen gewesen
war. Die Einsamkeit gehörte zwar unumgänglich zur |159| Schicksalserwartung, die in Rom seine einzige Beschäftigung war und die er mit niemandem teilen konnte. Aber jetzt wurde ihm
bewußt, wie tief er in dieser geduldigen, traumähnlichen Erwartung und diesem Schicksalsgefühl schon gesunken war, wie weit
es ihn mit Lianenschlingen zu seltsamen Wunderwesen der Wassertiefe hinuntergezogen hatte. Nun streckte er plötzlich den Kopf
aus dem Wasser und holte Atem.
Er mußte Waldheim treffen, und er ahnte sogar, wie das praktisch zu bewerkstelligen war. In dem Bericht über Waldheims Vortrag
war auch die Rede gewesen von einem Empfang, der im Palazzo Falconieri, dem Sitz des Collegium Hungaricum, stattgefunden hatte.
Jetzt fiel Mihály ein, daß es in Rom ein Collegium Hungaricum gab, wo Stipendiaten
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