Reise im Mondlicht
gab, wo er einen Grund hatte zu sein, einen Ort, der Sinn hatte. Diesen
Sinn hatte er schon tagelang gespürt, in den Straßen Roms, in den Häusern, Ruinen und Kirchen. Man konnte zwar nicht sagen,
daß er »von glückseliger Erwartung erfüllt« war; zu Rom und seinen Jahrtausenden paßte das Glück nicht, und was er von der
Zukunft erwartete, war ebenfalls nicht Glückseligkeit zu nennen. Aber er erwartete sein Schicksal, das sinnvolle, das Rom
gemäße Fatum.
Er schrieb sogleich an Tivadar, sein Gesundheitszustand erlaube ihm die lange Reise nicht. Das Geld würde er Millicent nicht
schicken. Die war doch so wohlhabend, daß es darauf nicht ankam; wenn sie bis dahin gewartet hatte, konnte sie auch noch ein
bißchen länger warten. An der Verspätung war Tivadar schuld, warum hatte er nicht mehr Geld geschickt.
In seinem nervösen Überschwang betrank er sich an dem Abend, und als er in der Nacht mit starkem Herzklopfen erwachte |155| , hatte er wieder das Untergangssgefühl, wie es dazumal seine Verliebtheit in Éva begleitet hatte. Er wußte noch klarer als
am Tag, daß er nach Hause fahren sollte, aus tausend Gründen, und daß er sehr viel riskierte, wenn er wegen Éva trotzdem in
Rom blieb – und wie unsicher, ob er sie wiedersehen würde –, denn er wußte, daß er vielleicht etwas nicht mehr Gutzumachendes gegen seine Familie und sein bürgerliches Dasein beging
und höchst unsicheren Tagen entgegenblickte. Und doch dachte er keine Minute daran, anders zu verfahren. Das gehörte auch
zum Spiel, dieses Risiko und dieses Untergangsgefühl. Wenn auch nicht morgen oder übermorgen, so würden sie sich doch irgendeinmal
wiedersehen, und bis dahin würde er leben, auf neue Art, nicht so, wie in den vergangenen Jahren.
Incipit vita nova.
|156| 2
Er las jeden Tag mit gemischten Gefühlen die italienischen Zeitungen. Einerseits genoß er den paradoxen Einfall, daß die italienischen
Zeitungen auf italienisch geschrieben waren, in dieser mächtigen, gewaltig strömenden Sprache, die zu Tagesnachrichten verkleinert
den Eindruck einer Turbine machte. Andererseits deprimierte ihn der Inhalt der Blätter. Die italienischen Zeitungen sind dauernd
in Ekstase, als würden sie gar nicht von Menschen geschrieben, sondern von glorienumschienenen Heiligen, die von einem Fra-Angelico-Bild
herabgestiegen sind, um den perfekten Staat zu verherrlichen. Für den Jubel gibt es immer einen Grund, einmal wird eine Institution
gerade elf Jahre, ein andermal eine Straße gerade zwölf Jahre alt. Bei diesen Gelegenheiten hält jemand eine schwungvolle
Rede, und das Volk jubelt ihm zu, jedenfalls laut Zeitung.
Wie jeden Ausländer beschäftigte auch Mihály die Frage, ob das Volk tatsächlich alles so begeistert feiert, ob es wirklich
so unablässig, unermüdlich glücklich ist, wie das die Zeitungen behaupten. Natürlich war ihm bewußt, daß der Ausländer die
Temperatur und Ehrlichkeit des italienischen Glücksgefühls schwerlich messen kann, vor allem, wenn er mit niemandem redet
und mit dem italienischen Leben nicht in Berührung kommt. Doch soweit er es aus dieser Distanz und mit dieser Beiläufigkeit
feststellen konnte, schien ihm das italienische Volk in der Tat unermüdlich glücklich und begeistert, seit das Mode geworden
war. Doch er wußte auch, wie wenig und was für Lappalien genügen, daß man – sowohl das Individuum als auch die Masse – glücklich
ist. Aber sehr intensiv beschäftigte er sich mit dieser Frage nicht. Sein Instinkt sagte ihm, daß es in Italien eigentlich
völlig gleichgültig ist, wer die Macht innehat und nach was für Prinzipien das |157| Volk regiert wird. Die Politik berührt bloß die Oberfläche, das Volk, das vegetative, ozeanhafte italienische Volk trägt mit
wundersamer Passivität die Wechselfälle der Zeit auf dem Rücken und fühlt sich nicht verbunden mit seiner großartigen Geschichte.
Er hatte den Verdacht, daß schon das republikanische und das kaiserliche Rom mit seinen mächtigen Gesten, seinem Heldentum
und seinen Schweinereien bloß ein männliches Gehabe an der Oberfläche gewesen war, die Privatangelegenheit einiger genialer
Schauspieler, während darunter die Italiener ruhig ihre Pasta aßen, von der Liebe sangen und ihre unzähligen Nachkommen zeugten.
Eines Tages fiel ihm im
Popolo d’Italia
ein vertrauter Name ins Auge: La Conferenza Waldheim. Er las den Artikel, aus dem hervorging, daß Rodolfo Waldheim, der
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