Reise im Mondlicht
wohnten, junge Künstler und Wissenschaftler.
Hier würde man Waldheims Adresse bestimmt kennen, wenn er nicht überhaupt auch da wohnte.
Die Adresse des Palazzo Falconieri fand er auch bald heraus: Er steht in der Via Giulia, unweit des Campo de’ Fiori, in dem
Viertel, wo er am liebsten umherspazierte. Vom Ghetto herkommend stand er bald vor dem schönen alten Palazzo.
Der Portier hörte sich Mihálys Anliegen freundlich an und teilte ihm mit, der Professor befinde sich tatsächlich hier am Collegium,
schlafe aber um diese Zeit. Mihály blickte erstaunt auf die Uhr, es war schon halb elf.
»Ja«, sagte der Portier, »der Herr Professor schläft jeden Tag bis um zwölf, und man darf ihn nicht wecken, kann man auch
nicht, denn er hat einen sehr tiefen Schlaf.«
»Na gut, dann komme ich vielleicht nach dem Mittagessen wieder«, sagte Mihály.
»Der Herr Professor legt sich nach dem Mittagessen wieder schlafen, und auch dann darf man ihn nicht stören.«
»Und wann ist er wach?«
»Die ganze Nacht«, sagte der Portier ehrfürchtig.
»Dann ist es wohl am besten, wenn ich meine Visitenkarte und meine Adresse dalasse und mich der Herr Professor benachrichtigt,
falls er mich treffen möchte.«
Als er an dem Abend nach Hause kam, erwartete ihn schon ein |160| Telegramm von Waldheim, der ihn zu sich zum Abendessen einlud. Mihály setzte sich sogleich wieder in eine Straßenbahn und
fuhr zum Palazzo Falconieri hinunter. Er liebte die Linie C, die vom Bahnhof in diese Richtung fährt, über einen Umweg durch
die halbe Stadt: durch Boskette hindurch, vor dem Colosseum und den Ruinen des Palatins vorbei, um dann am Tiberufer an den
Jahrtausenden entlangzurattern, und das alles in nicht mehr als einer Viertelstunde.
»Herein«, rief Waldheim, als Mihály klopfte, doch die Tür klemmte irgendwie.
»Wart mal, gleich …« rief Waldheim von drinnen, und nach einer Weile ging die Tür auf.
»Sie war ein bißchen verstellt«, sagte Waldheim und deutete auf einen Bücher- und Manuskripthaufen auf dem Boden. »Komm ruhig
herein.«
Das war nicht ganz einfach, denn das ganze Zimmer war voller Gegenstände. Abgesehen von den Büchern und Manuskripten waren
da Waldheims schreiend helle Sommeranzüge, seine Unterwäsche, erstaunlich viele Paare Schuhe, Schwimmsachen und weitere Sportausrüstungen,
Zeitungen, Konservendosen, Pralinenschachteln, Briefe, Kunstdrucke und Photos von Frauen.
Mihály blickte sich verwirrt um.
»Ja, weißt du, ich mag es nicht, wenn aufgeräumt wird, während ich hier bin«, sagte Waldheim. »Die Putzfrauen machen eine
solche Unordnung, und dann finde ich nichts mehr. Bitte, setz dich. Wart mal, gleich …«
Er wischte ein paar Bücher von einem Haufen, der sich als Stuhl entpuppte, und Mihály setzte sich vorsichtig. Unordnung brachte
ihn immer in Verlegenheit, und diese Unordnung verströmte noch dazu die ehrgebietende Aura der Wissenschaft.
Waldheim setzte sich auch und begann sogleich weitschweifig zu erklären, warum er unordentlich war. Die Unordnung hatte mehrere
abstrakte, geistige Gründe, doch auch die Genetik spielte eine Rolle.
»Mein Vater, bestimmt habe ich dir schon von ihm erzählt, war Maler, vielleicht erinnerst du dich auch an seinen Namen. Er
hat |161| ebenfalls nicht erlaubt, daß man an die aufgehäuften Gegenstände in seinem Atelier rührte. Mit der Zeit konnte nur noch er
durch das Atelier gehen, da nur er wußte, wo die Inseln waren, die man betreten konnte, ohne in irgend etwas hineinzufallen.
Doch dann wurden auch diese Inseln von der unaufhaltsamen Flut der Gegenstände überspült. Da schloß mein Vater das Atelier,
mietete ein anderes und begann ein neues Leben. Als er starb, stellte sich heraus, daß er fünf Ateliers gehabt hatte, alle
bis zum Platzen gefüllt.« Darauf erzählte er sein Leben von dem Moment an, da er und Mihály sich das letzte Mal gesehen hatten,
seine universitäre Karriere und seinen philologischen Weltruhm, mit dem er so liebenswürdig naiv aufschnitt wie ein kleiner
Junge. »Zufällig« hatte er »gerade ein paar Zeitungsartikel dabei«,die in verschiedenen Sprachen seine verschiedenen Vorträge
über den grünen Klee lobten, unter ihnen auch den Bericht, den Mihály im
Popolo d’Italia
gelesen hatte. Des weiteren kamen Briefe zum Vorschein, die anerkennenden Zeilen namhafter ausländischer Gelehrter und eine
Einladung nach Doorn, zur Sommertagung der archäologischen Arbeitsgruppe des
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