Reise im Mondlicht
entsetzlich«, sagte Waldheim unterwegs. »Vielleicht allzu sehr. Weißt du, in meiner Jugend bin
ich nicht so oft zu Frauen gekommen, wie es nötig gewesen wäre, und wie ich es gern gehabt hätte, teils, weil man in der Jugend
so dumm ist, teils weil es meine strenge Erziehung verbot. Ich bin von meiner Mutter erzogen worden, der Tochter eines Pastors,
eines waschechten deutschen Reichspfarrers. Als Kind war ich einmal bei ihnen, und ich weiß nicht warum, ich habe den alten
Herrn gefragt, wer Mozart gewesen sei.
Der war ein Scheunenpurzler
, hat er gesagt, was ungefähr so viel heißt, wie daß Mozart das Landpublikum mit Purzelbäumen unterhielt. Mit diesem Ausdruck
bezeichnete der Alte die Künstler. Wie gesagt, ich habe das Gefühl, daß ich nie werde nachholen können, was ich bis zu meinem |164| fünfundzwanzigsten Jahr an Frauen verpaßt habe. Aber wir sind da. Also, warte bitte auf mich, ich komme gleich wieder.«
Er verschwand in einem dunklen Tordurchgang. Mihály spazierte verwundert, aber erheitert auf und ab. Nach einer Weile hörte
er ein komisches Hüsteln und blickte auf;Waldheim streckte seinen glänzenden runden Kopf aus einem Fenster.
»Ähm. Ich komme.«
»Eine sehr liebe Frau«, sagte er, als er unten war. »Hat zwar ein bißchen einen Hängebusen, aber das macht nichts, daran muß
man sich hier gewöhnen. Ich habe sie auf dem Forum kennengelernt und sie damit erobert, daß ich ihr erzählt habe, der Schwarze
Stein habe vermutlich phallische Bedeutung. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr die Frauen auf Religionsgeschichte
fliegen. Sie fressen sie mir aus der Hand. Im übrigen fürchte ich, daß man die Frauen auch mit Differentialrechnung und doppelter
Buchhaltung erobern kann, wenn man die Dinge nur mit der nötigen Intensität vorbringt. Sie achten sowieso nicht auf den Text.
Und wenn sie auf ihn achten, verstehen sie ihn nicht. Und doch führen sie einen manchmal in die Irre. Manchmal benehmen sie
sich genauso, als seien sie Menschen. Macht nichts. Ich liebe sie. Und sie mich auch, das ist die Hauptsache. Na, laß uns
da hineingehen.«
Mihály schnitt unwillkürlich eine Grimasse, als er die Kneipe sah, in der Waldheim einkehren wollte.
»Schön ist sie nicht, zugegeben, aber billig«, sagte Waldheim. Aber wie ich sehe, bist du noch immer das feine Jüngelchen,
das du an der Universität gewesen bist. Na gut, gehen wir für einmal an einen besseren Ort. Dir zuliebe.«
Und das wieder mit einem Lächeln, das seiner eigenen Großzügigkeit galt: daß er Mihály zuliebe willens war, seine eigene Konsumation
in einem teureren Lokal zu bezahlen.
Sie gingen in eine Kneipe, die einen Hauch besser war. Waldheim redete noch eine Weile und schien dann ein bißchen zu ermüden.
Einige Augenblicke lang starrte er vor sich hin, dann wandte er sich auf einmal verblüfft an Mihály:
»Ja und du, was hast du die ganze Zeit gemacht?«
|165| Mihály mußte lächeln.
»Ich habe das Handwerk gelernt und habe in der Firma meines Vaters gearbeitet.«
»Du
hast
gearbeitet? In der Vergangenheit? Und jetzt?«
»Jetzt mache ich nichts. Ich bin von zu Hause davongelaufen, hänge hier herum und denke darüber nach, was ich tun soll.«
»Was du tun sollst? Das ist doch keine Frage. Beschäftige dich mit Religionsgeschichte. Glaube mir, das ist heute die aktuellste
Wissenschaft.«
»Aber warum meinst du, ich sollte mich mit Wissenschaft beschäftigen? Was habe ich mit der Wissenschaft am Hut?«
»Alle, die nicht stupid sind, müssen sich mit Wissenschaft beschäftigen, im Hinblick auf das eigene Seelenheil. Das ist die
einzige menschenwürdige Beschäftigung. Naja, vielleicht auch die bildende Kunst und die Musik … Aber anderes, zum Beispiel die Arbeit in einer Handelsfirma, für jemanden, der nicht ganz stupid ist … ich will dir sagen, was das ist: eine Pose.«
»Eine Pose? Wie meinst du das?«
»Schau: Ich erinnere mich, daß du ein ganz ordentlicher Religionshistoriker zu werden versprachst. Naja, du hattest nicht
gerade die rascheste Auffassungsgabe, aber mit Fleiß läßt sich ja vieles kompensieren, und es sind schon viel weniger begabte
Leute als du herausragende Wissenschaftler geworden, sogar erst recht … Und dann weiß ich nicht genau, aber ich kann mir vorstellen, was in deiner bürgerlichen Seele vorging: Du hast gemerkt,
daß die wissenschaftliche Laufbahn keine Sicherheit bietet, daß du keine Lust hast auf die langweilige
Weitere Kostenlose Bücher