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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antal Szerb
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die die Frauen rauben, sind Todesdämonen. Aber merkst du’s? Die Frauen werden von männlichen Dämonen, die Männer von weiblichen
     Dämonen entführt. Diese Etrusker haben sehr wohl gewußt, daß Sterben ein erotischer Akt ist.«
    |169| Ein Schauder durchlief Mihály. Konnte es sein, daß auch andere das wußten, nicht nur er und Tamás Ulpius? Konnte es sein,
     daß dieses Grundgefühl seines Lebens für die Etrusker eine darstellbare und selbstverständliche seelische Gegebenheit gewesen
     war und daß Waldheim mit seiner genialen religionsgeschichtlichen Intuition diese Gegebenheit genauso verstehen konnte, wie
     er auch andere furchtbare Geheimnisse der archaischen Religionen verstand?
    Das verwirrte ihn so sehr, daß er nichts mehr sagte, weder im Museum noch auf der Heimfahrt in der Straßenbahn, doch am Abend,
     als er Waldheim wieder besuchte und ihm der Rotwein etwas Mut machte, fragte er, wobei er aufpaßte, daß seine Stimme nicht
     zitterte:
    »Sag mir doch bitte, wie du das gemeint hast, daß Sterben ein erotischer Akt sei.«
    »Ich meine alles so, wie ich es sage, ich bin kein symbolistischer Dichter. Sterben ist ein erotischer Akt, oder wenn du lieber
     willst: ein sexueller Genuß. Zumindest für die Menschen der archaischen Kulturen, die Etrusker, die Griechen zu Homers Zeit,
     die Kelten.«
    »Ich verstehe das nicht«, sagte Mihály. »Ich habe immer gemeint, die alten Griechen hätten sich schrecklich vor dem Tod gefürchtet;
     die Griechen zu Homers Zeit hatten ja nicht den tröstlichen Ausblick in ein Jenseits, wenn ich mich an Rohdes Buch recht erinnere.
     Und die Etrusker, die im Augenblick lebten, hatten noch größere Angst vor dem Tod.«
    »Stimmt alles. Diese Völker hatten vor dem Tod wahrscheinlich noch größere Angst als wir. Wir bekommen von der Zivilisation
     bereits einen so tollen seelischen Apparat geliefert, daß wir praktisch die längste Zeit vergessen können, daß wir einmal
     sterben müssen; allmählich werden wir den Tod ebenso aus dem Bewußtsein verdrängen, wie wir Gott bereits verdrängt haben.
     Das ist die Zivilisation. Doch für den archaischen Menschen war nichts präsenter als der Tod und der Tote, der Tote persönlich,
     dessen geheimnisvolles Weiterleben, dessen Schicksal und Rache ihn pausenlos beschäftigten. Man hatte eine ungeheure Angst
     vor dem |170| Tod und den Toten, bloß war in der Seele des archaischen Menschen alles noch viel ambivalenter als bei uns, die großen Gegensätze
     waren einander noch nah. Todesfurcht und Todessehnsucht waren enge Nachbarn in der Seele, und die Furcht war oft Sehnsucht
     und die Sehnsucht Furcht.«
    »Aber die Todessehnsucht ist doch keine archaische Angelegenheit, sondern etwas ewig Menschliches«, sagte Mihály, womit er
     sich gegen seine eigenen Gedanken zu wehren versuchte. »Es gibt und gab doch schon immer die Lebensmüden, die sich vom Tod
     die Erlösung versprechen.«
    »Red keinen Unsinn und tu nicht, als hättest du mich nicht verstanden. Ich spreche jetzt nicht von der Todessehnsucht der
     Müden und Kranken und Selbstmordkandidaten, sondern von denen, die in der Fülle des Lebens, ja, gerade weil ihr Leben so erfüllt
     ist, sich nach dem Tod sehnen als nach der höchsten Ekstase, so wie man auch von tödlicher Liebe spricht. Entweder du verstehst
     das, oder du verstehst es nicht, erklären kann man es nicht, und für die archaischen Menschen war es selbstverständlich. Deshalb
     sage ich, daß Sterben ein erotischer Akt ist: weil sie sich danach sehnten, denn im Grunde ist jede Sehnsucht erotisch, beziehungsweise,
     wir nennen alles erotisch, dem der Gott Eros, also die Sehnsucht, innewohnt. Der Mann sehnt sich immer nach einer Frau, sagten
     unsere Freunde, die Etrusker, also ist der Tod, das Sterben, eine Frau. Für den Mann. Für die Frau hingegen ist es ein Mann,
     ein drängender Satyr. Das sagen die Statuen, die du heute gesehen hast. Ich könnte dir aber auch noch anderes zeigen: die
     Bilder der Todeshetäre auf verschiedenen archaischen Reliefs. Der Tod als Hure, die die Männer verführt. Sie wird mit einer
     riesengroßen Vagina dargestellt. Die Vagina bedeutet wahrscheinlich mehreres. Von da sind wir gekommen, dahin kehren wir zurück,
     haben diese Menschen gesagt.Wir sind durch einen erotischen Akt und durch eine Frau hindurch auf die Welt gekommen, und genauso
     müssen wir auch sterben, durch die Todeshetäre hindurch, die das große Gegenstück der Urmutter ist   … wenn wir

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