Reise im Mondlicht
sterben, werden wir rückwärts geboren, verstehst du? Übrigens habe ich letzthin genau das erzählt, bei meinem Vortrag
an der Accademia Reale, unter dem |171| Titel
Aspetti della morte
. Hatte in den italienischen Blättern riesigen Erfolg. Ich hab’s zufällig gerade da, wart mal …«
Mihály blickte im fröhlichen Chaos von Waldheims Zimmer schaudernd um sich. Es erinnerte von Ferne an das alte Zimmer im Ulpius-Haus.
Er suchte ein Zeichen, etwas, das in ganz konkreter Form … Tamás’ Nähe belegen würde, Tamás, dessen Gedanken von Waldheim wissenschaftlich sauber und sachlich vorgetragen wurden,
hier, an diesem Sommerabend. Waldheims Stimme war schon metallscharf pfeifend, wie immer, wenn seine Erläuterungen »das Wesentliche«
streiften. Mihály kippte rasch ein Glas Wein hinunter und trat zum Fenster, um Luft zu schöpfen; etwas bedrückte ihn sehr.
»Die Todessehnsucht ist eine der wichtigsten mythenbildenden Kräfte«, fuhr Waldheim aufgeregt und eher zu sich selbst fort.
»Wenn wir die Odyssee richtig lesen, handelt sie von nichts anderem. Da sind die Todeshetären, Kirke und Kalypso, die auf
ihren glücklichen Todesinseln den Reisenden in ihre Höhlen locken und nicht weiterziehen lassen wollen; ganze Todesreiche
sind das, die Länder der Lotophagen und Phäaken, und wer weiß, ob nicht auch Ithaka ein Todesland ist?… Weit im Westen, die
Toten segeln immer mit der Sonne nach Westen … und Odysseus’ Sehnsucht und seine Rückkehr nach Ithaka bedeuten vielleicht die Sehnsucht nach dem Nichtsein, nach der Rückwärtsgeburt … Es ist möglich, daß Penelope ›Ente‹ heißt und ursprünglich ein Seelenvogel war, aber das kann ich vorläufig noch nicht belegen.
Siehst du, das ist ein Thema, mit dem man sich unbedingt so rasch wie möglich beschäftigen müßte; du auch … Du könntest einen Teil aufarbeiten, um in die religionsgeschichtliche Methode hineinzukommen. Es wäre zum Beispiel sehr
interessant, wenn du etwas über Penelope als Seelenente schriebst.«
Mihály wies den Auftrag dankend zurück, im Augenblick interessierte ihn die Seelenente weniger.
»Warum waren es nur die archaischen Griechen, die so sehr die Gegenwart des Todes spürten?«
»Weil es überall die Eigenheit der Zivilisation ist, auch bei den Griechen, daß sie die Menschen von der Realität des Todes
ablenkt |172| und die Todessehnsucht ausgleicht, wobei sie gleichzeitig den rohen Lebenswillen vermindert. Auch die christliche Zivilisation
hat das getan. Obwohl die Völker, die vom Christentum befriedet werden mußten, einen noch viel größeren Todeskult hatten als
die Griechen. Die Griechen waren eigentlich kein spezielles Todesvolk, bloß vermochten sie alles viel besser auszudrücken
als andere.Wirklich todverbunden waren die nordischen Völker, die Germanen im Urdunkel ihrer Wälder und die Kelten, vor allem
die Kelten. Die keltischen Legenden sind voller Todesinseln, die später in den Aufzeichnungen der christlichen Chronisten
typischerweise zu den Inseln der Glückseligen wurden, und die idiotischen Ethnologen fallen meistens darauf herein. Aber ist
es denn die Insel der Glückseligen, die aufgrund eines unwiderstehlichen Zwangs ihre Gesandte, die Fee, zum Prinzen Bran schickt?
Und warum wird man zu Staub und Asche, sobald man die Insel verläßt? Und was meinst du, warum lachen die Lachenden auf der
Insel, jener anderen Insel? Vor lauter Glück? Quatsch. Sie lachen, weil sie tot sind, und ihr Lachen ist das fürchterliche
Grinsen der Leichen, wie man es auf indianischen Masken und auf den Gesichtern der peruanischen Mumien sieht. Doch das ist
nicht mein Fach, die Kelten. Du hingegen könntest dich mit ihnen beschäftigen. Du solltest unbedingt so rasch wie möglich
Irisch und Kymbrisch lernen, du hast ja sowieso nichts zu tun. Und dann mußt du nach Dublin fahren.«
»Gut«, sagte Mihály, »aber sprich bitte weiter, du weißt gar nicht, wie sehr mich das interessiert.Wie hat die Menschheit
aufgehört, sich nach den Todesinseln zu sehnen, oder sehnt sie sich immer noch? Also, wie endet die Geschichte?«
»Ich kann nur mit einer selbstgebastelten Theorie antworten. Der Eintritt der nordischen Völker in die christliche Völkergemeinschaft,
die europäische Zivilisation, hatte, wie du dich vielleicht erinnerst, vornehmlich zur Konsequenz, daß zwei Jahrhunderte lang
von nichts anderem als vom Tod die Rede war: im zehnten und elften Jahrhundert,
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