Reise im Mondlicht
eine wunderschöne Villa inmitten eines großen Gartens, oben auf dem Gianicolo.
Die jährlich einmal stattfindende Garden-Party ist für die angelsächsische Kolonie Roms ein großes Ereignis, das nicht nur
von den amerikanischen Archäologen, sondern vor allem von den in Rom lebenden Künstlern veranstaltet wird, und geladen sind
alle jene, die mit ihnen in engerem oder loserem Kontakt stehen. So pflegt sich hier eine außerordentlich gemischte, also
außerordentlich interessante Gesellschaft zusammenzufinden.
Doch Mihály nahm von der Gemischt- und Interessantheit der Gesellschaft wenig wahr. Wieder befand er sich in einem Seelenzustand,
in dem die Dinge durch einen Schleier, einen Nebel zu ihm kamen: das würzige, sich selbst genügende Glück der Sommernacht,
vermischt mit der Tanzmusik, den Getränken und den Frauen, mit denen er über irgend etwas plauderte, worüber, das wußte er
selbst nicht recht. Sein Kostüm hatte eine entfremdende Wirkung: Er war gar nicht da, es war jemand anderer, ein schläfriger
Pierrot.
Die Stunden vergingen in angenehmer Benommenheit, es war schon sehr spät, und jetzt stand er wieder auf einem rasenbewachsenen
kleinen Hügel unter einer Pinie, und wieder hörte er die seltsamen, unerklärlichen Töne, die ihn im Lauf der Nacht immer wieder
beunruhigt hatten.
Die Töne kamen von jenseits einer sehr hohen Mauer, und je mehr die Nacht fortschritt, um so höher wurde die Mauer, himmelhoch.
Die Töne waren einmal stärker, einmal schwächer, einmal ohrenbetäubend intensiv, ein andermal nur wie ein fernes Jammern,
wehklagende Menschen am Ufer eines fernen Sees oder Meeres, unter einem aschfarbenen Himmel … Dann verstummten |176| sie, schwiegen lange, und Mihály begann sie zu vergessen und sich zu fühlen wie jemand, der an einer Garden-Party teilnimmt,
und er ließ sich von Waldheim, der ganz in seinem Element war, einer weiteren Frau vorstellen, als die Töne wieder einsetzten.
Obwohl sich die Stimmung gerade sehr angenehm zu entwikkeln begann. Alle waren jetzt auf subtilere, stärkere Art betrunken,
was nicht dem Alkohol, sondern der Nacht zu verdanken war. Man hatte die Schwelle des Schlafs überschritten; die Zeit, in
der man ins Bett zu gehen pflegt, war längst vorbei, jetzt war schon alles egal, jetzt hatte man keine Gewissensbisse mehr,
man überließ sich der Nacht. Waldheim sang Arien aus der Schönen Helena. Mihály beschäftigte sich mit einer polnischen Dame,
und alles war sehr nett, als er wieder die Töne hörte. Er entschuldigte sich und ging auf den Hügel hinauf, stand dort allein,
horchte angespannt und mit Herzklopfen, als hinge alles davon ab, daß er dieses Rätsel löste.
Jetzt hörte er deutlich, daß jenseits der Mauer gesungen wurde, von mehreren Personen, wahrscheinlich Männern, ein klagender,
mit nichts vergleichbarer Gesang, in welchem bestimmte erkennbare, aber unverständliche Wörter rhythmisch wiederkehrten. Ein
tiefer, ergreifender Schmerz klang in dieser Melodie, aber auch etwas Unmenschliches, oder Vormenschliches, etwas, das an
das nächtliche Heulen von Tieren erinnerte, ein Schmerz, der noch aus der Zeit der Bäume stammte, der Zeit der Pinien. Mihály
setzte sich unter die Pinie und schloß die Augen. Nein, das waren keine Männer, die dort drüben sangen, sondern Frauen, und
er sah sie vor sich, eine seltsame Gesellschaft, sie glichen am ehesten den Bewohnern Naconxipans, des Wunderlands, wie es
der wahnsinnige Gulácsy gemalt hatte, in Kleidern von einem starken, sinnverwirrenden Violett. Und dann dachte er, so habe
man wohl um Götter geklagt, um Attis und Adonis … um Tamás, um Tamás, der zu Beginn der Zeiten unbeweint gestorben war und jetzt jenseits der Mauer aufgebahrt lag, auf seinem
Gesicht der Schimmer der kommenden Morgenröte.
Als er die Augen wieder aufmachte, stand eine Frau über ihm, mit den Schultern an die Pinie gelehnt, in einem klassizistischen |177| Kostüm, wie man sich zur Goethezeit die Griechen vorgestellt hatte, und mit einer Maske. Mihály richtete sich höflich auf
und fragte die Dame auf englisch:
»Wissen Sie zufällig, was das für Männer oder Frauen sind, die da drüben singen?«
»Ja, natürlich«, sagte die Dame. »Da ist ein syrisches Kloster, und die Mönche singen alle zwei Stunden ihre Psalmen. Unheimlich,
nicht?«
»Ja«, sagte Mihály.
Sie schwiegen eine Weile. Schließlich sagte die Frau:
»Ich muß Ihnen etwas ausrichten.
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