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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antal Szerb
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den Jahrhunderten der Cluny-Reform. In frühromanischer
     Zeit war das Christentum drauf und dran, zur finstersten Todesreligion zu werden, etwa so wie die Religion |173| der mexikanischen Indios. Doch dann brach ihr ursprünglicher mediterraner, humaner Charakter wieder durch. Was war geschehen?
     Die Mediterranen hatten die Todessehnsucht zu sublimieren und zu rationalisieren vermocht, oder einfach gesagt, sie hatten
     die Todessehnsucht zu einer Sehnsucht nach dem Jenseits verdünnt, hatten den schrecklichen Sex-Appeal der Todessirenen in
     die Engelsmusik der himmlischen Heerscharen verwandelt. Jetzt durfte sich der Gläubige ganz ruhig einen schönen Tod wünschen,
     er sehnte sich ja nicht mehr nach den heidnischen Genüssen des Sterbens, sondern nach den zivilisierten, anständigen Freuden
     des Himmels. Die krude, archaische, heidnische Todessehnsucht hingegen wurde verbannt in die Schichten unterhalb der Religion,
     in den Aberglauben, in den Bereich des Hexentums und des Satanismus. Je stärker die Zivilisation, um so tiefer hinunter wird
     die Todesliebe verdrängt.
    Schau doch: In der zivilisierten Gesellschaft ist der Tod überhaupt ein Tabu geworden. Es schickt sich nicht, von ihm zu sprechen,
     sein Name wird umschrieben, als wäre er etwas Unanständiges, aus der Leiche wird der Verblichene, der Dahingeschiedene, der
     Heimgegangene, so wie man auch die Vorgänge der Verdauung umschreibt. Und wovon man nicht spricht, daran soll man auch nicht
     denken. Das ist der Schutzmechanismus der Zivilisation gegen die furchtbare Gefahr, die darin besteht, daß im Menschen neben
     dem Lebenswillen auch ein gegenteiliger Trieb am Werk ist, der ihn schlau, süß und stark zum Nichts hinlockt. Dieser Trieb
     ist für den zivilisierten Menschen um so gefährlicher, als seine reine Vitalität sowieso schon vermindert ist. Deshalb muß
     er die andere Sehnsucht mit aller Gewalt unterdrücken. Was aber nicht immer gelingt. In dekadenten Zeiten bricht jene andere
     Sehnsucht hervor und überflutet in erstaunlichem Maß sämtliche Bereiche des Geistes. Manchmal schaufeln ganze Gesellschaftsklassen
     fast bewußt ihr eigenes Grab, so etwa die französischen Aristokraten vor der Revolution, und ich fürchte, daß heute das aktuelleste
     Beispiel die Ungarn von Transdanubien sind   …
    Ich weiß nicht, ob du mich verstehst. Meistens werde ich sensationell mißverstanden, wenn ich von diesem Thema spreche. |174| Aber ich kann ja eine Probe machen. Kennst du das Gefühl: man geht auf einem glitschigen Bürgersteig, gleitet mit einem Bein
     aus und beginnt zu fallen. Mich erfaßt in dem Augenblick, da ich das Gleichgewicht verliere, ein plötzliches Glücksgefühl.
     Natürlich nur einen Augenblick lang, dann reiße ich automatisch das Bein zurück, stelle mein Gleichgewicht wieder her und
     freue mich, daß ich nicht hingefallen bin. Doch dieser Augenblick! Einen Augenblick lang habe ich mich von den schrecklichen
     Gesetzen des Gleichgewichts gelöst, war frei, war dabei, auf eine zerstörerische Freiheit zuzufliegen   … Kennst du das?«
    »Ich kenne das alles besser, als du denkst«, sagte Mihály leise.
    Waldheim blickte ihn verblüfft an.
    »Sagst du das aber komisch, mein Junge! Und wie blaß du bist! Was hast du? Komm auf die Terrasse hinaus.«
    Auf der Terrasse kam Mihály sogleich zu sich.
    »Hol dich der Teufel«, sagte Waldheim. »Was soll das? Ist dir heiß, oder bist du hysterisch? Ich warne dich, falls du unter
     der Wirkung meiner Worte Selbstmord begehst, werde ich leugnen, dich je gekannt zu haben.Was ich sage, hat immer strikt theoretischen
     Charakter. Ich hasse die Leute, die aus wissenschaftlichen Erkenntnissen irgendwelche praktischen Schlüsse ziehen, ›die Lehre
     ins Leben übertragen‹, wie die Ingenieure, die aus den kühnen Formeln der Chemie Wanzenvertilgungsmittel fabrizieren. Goethes
     Worte sind erst umgekehrt richtig: grau ist alles Leben und grün der goldne Baum der Theorie. Vor allem, wenn es sich um so
     grüne Theorien handelt wie diese. Na, ich hoffe, daß ich dein seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt habe. Und überhaupt   … vergiß das Seelenleben. Ich glaube, das ist dein Problem. Ein intelligenter Mensch hat kein Seelenleben. Und komm morgen
     mit mir auf die Garden-Party des Amerikanischen Archäologischen Instituts. Du brauchst ein bißchen Abwechslung. So, und jetzt
     geh nach Hause, ich muß noch arbeiten.«

|175| 4
    Das Amerikanische Archäologische Institut ist

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