Reise im Mondlicht
Nachmittag regnete es schon, und wir gingen in unser Zimmer.
Nie war es auf dieser Welt so sehr Herbst gewesen, Mihály.
Tamás schrieb seinen Abschiedsbrief, nichtssagende Worte, keine Begründung für seine Tat. Danach bat er mich, das Gift vorzubereiten
und ihm zu geben …
|225| Warum er mich dazu brauchte?… und warum ich es getan habe … siehst du, das verstehst vielleicht nur du, der damals mit uns zusammen gespielt hat.
Ich habe seither nie Schuldgefühle gehabt. Tamás wollte sterben, ich hätte es sowieso nicht verhindern können, wollte es auch
nicht, weil ich wußte, daß es so besser war für ihn. Daß ich seinen letzten Wunsch erfüllt habe, war richtig, und ich habe
es auch nie bereut. Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, wenn nicht ich ihm das Gift gegeben hätte, wäre er vielleicht doch schwach
geworden und hätte stundenlang mit sich gerungen, bis er es schließlich doch genommen hätte, und so wäre er halbherzig, sich
seiner Schwäche schämend in den Tod gegangen. Auf diese Art hingegen tötete er sich tapfer, ohne zu zögern, denn er spielte,
spielte das Theaterstück, in welchem ich ihn umbringe, so wie wir es zu Hause immer wieder geprobt hatten.
Dann legte er sich ruhig hin, und ich setzte mich auf den Bettrand. Als die tödliche Schläfrigkeit über ihn zu kommen begann,
zog er mich an sich und küßte mich. Und er küßte mich so lange, bis seine Arme von mir abfielen. Es waren keine geschwisterlichen
Küsse, Mihály, zugegeben. Da waren wir keine Geschwister mehr, sondern jemand, der weiterlebt, und jemand, der stirbt … ich glaube, da war es erlaubt.«
Sie schwiegen sehr lange. Schließlich fragte Mihály:
»Éva, warum hast du mir ausrichten lassen, ich solle dich nicht mehr suchen? Warum willst du mich nicht treffen?«
»Aber spürst du es denn nicht, Mihály, spürst du nicht, daß das nicht geht?… Wenn wir zu zweit sind, sind wir nicht zu zweit … Tamás kann in jedem Augenblick zwischen uns treten. Und jetzt auch Ervin … Nein, Mihály, ich kann nicht mit dir zusammensein.«
Sie stand auf.
»Setz dich noch einen Augenblick«, sagte Mihály so leise, wie man nur in der größten Erregung spricht. »Stimmt es, daß du
nach Indien fährst? Für lange Zeit?«
Éva nickte.
|226| Mihály rang die Hände.
»Du gehst wirklich weg, und ich sehe dich nie mehr?«
»Ja. Und was wirst du machen?«
»Für mich gibt es nur eins: meinen eigenen Tod sterben.Wie … wie Tamás.«
Sie verstummten.
»Meinst du das im Ernst?«
»Im vollsten Ernst. Es hat keinen Sinn, daß ich in Rom bleibe. Und noch weniger Sinn hat es, daß ich heimgehe. Es hat überhaupt
nichts einen Sinn.«
»Kann man dir nicht helfen?« fragte Éva ohne Überzeugung.
»Nein. Doch, auf eine Art schon. Etwas könntest du für mich tun, Éva.«
»Nämlich?«
»Ich getraue mich nicht, es zu sagen. Es ist sehr schwer.«
»Sag’s.«
»Éva … sei bei mir, wenn ich sterbe … so wie bei Tamás.«
Éva dachte nach.
»Wirst du es tun? Wirst du es tun? Éva, ich bitte dich nur um dieses eine, und danach um nichts mehr, in alle Ewigkeit.«
»Also gut.«
»Versprichst du es?«
»Ja, ich verspreche es.«
|227| 6
Erzsi war wieder in Paris. Sie rief János an, der sie am Abend zum Essen abholte. Erzsi fand ihn zerstreut, und seine Wiedersehensfreude
schien mäßig. Das bestätigte sich, als er sagte:
»Heute essen wir mit dem Perser.«
»Wieso? Am ersten Abend!«
»Schon, aber ich kann nichts dafür. Er hat darauf bestanden, und du weißt ja, daß ich ihm gefällig sein muß.«
Während des Essens schwieg János zumeist, und das Gespräch wurde von Erzsi und dem Perser bestritten.
Der Perser erzählte von seiner Heimat. Dort sei die Liebe ein schweres, romantisches Handwerk, dort sei es noch heute so,
daß der verliebte Jüngling über eine drei Meter hohe Mauer klettern und sich im Garten des Vaters der Angebeteten verstekken
muß, um auf den Augenblick zu lauern, da die Angebetete mit ihrer Begleiterin vorbeispaziert. So können sie heimlich ein paar
Worte wechseln, wobei der Jüngling sein Leben aufs Spiel setzt.
»Und das ist gut?« fragte Erzsi.
»Ja, sehr gut«, sagte der Perser. »Sehr gut. Man ehrt eine Sache viel eher, wenn man auf sie warten, um sie kämpfen und leiden
muß. Oft denke ich, daß die Europäer gar nicht wissen, was Liebe ist. Und in der Liebestechnik kennen sie sich tatsächlich
nicht aus.«
Seine Augen glühten, seine
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