Reise mit Hindernissen nach England und Schottland
religiöser Pflichten sehr weit getrieben und sich sogar von der anglikanischen Kirche getrennt; während diese, obwohl sie die kalvinistischen Glaubenssätze gelten läßt, die Bischöfe und eine gewisse Hierarchie im Priesteramt bewahrt hat. Die schottischen Presbyterianer haben eine absolute Gleichheit unter den Geistlichen verkündet, die, von jeder Liturgie und äußeren Religionsausübung befreit, keinen anderen Auftrag haben, als die Bibel durch die individuelle Vernunft auszulegen. Jacques nahm sich fest vor, die Einzelheiten der beiden, in der Familie B. vereinten Religionen mit Interesse zu verfolgen.
Nach einigen Minuten kehrte Miss Amelia allein zurück, und mit der Ungezwungenheit der jungen Engländerinnen wies sie ihren beiden Gästen den Weg zu einem neuen Ausflug.
»Meine Herren«, sagte sie, »ich werde sie in den Botanischen Garten führen, der sich hier in der Inverleith Row befindet; heute ist Samstag, die Gewächshäuser sind noch offen, und Sie werden ganz ungewöhnliche Pflanzen zu sehen bekommen.«
Jacques bot Miss B. seinen Arm an, diese stimmte anmutig zu, und schon bald standen sie vor dem Eingang der Botanical Gardens. Mit seinem schmucklosen kleinen Tor wirkt dieser Garten wie ein sorgfältig gepflegter Privatbesitz; seine Rasenflächen sind prachtvoll wie in ganz England, und die Spaziergänger schlendern so ungehindert auf ihnen dahin wie auf den Sandwegen. Miss Amelia lenkte ihre Schritte zu den Gewächshäusern, einer geräumigen Glasrotunde, unter der exotische Pflanzen aller Klimazonen Schutz finden. Die Kuppe dieser Rotunde wird von einer eisernen Galerie abgeschlossen, von der man eine herrliche Aussicht über ganz Edinburgh hat.
Dieser reizende Spaziergang dauerte ungefähr eine Stunde, angefüllt mit Jacques’ unablässigen Fragen über Schottland und Miss Amelias beständigen Erkundungen über Frankreich. Schließlich waren sie wieder in der Inverleith Row, und Miss Amelia führte ihre neuen Freunde ganz selbstverständlich, als sei es ein vergnüglicher Ort, zum Friedhof von Edinburgh, auf der anderen Straßenseite.
Dieser war im übrigen ein entzückender Park mit grünen Rasen und von Buchsbäumen gesäumten Alleen; die Gräber unter ihren kühlen Schattendächern boten einen erfreulichen Anblick, und man bekam Lust, sich auf ihnen zur ewigen Ruhe auszustrecken. Die Vorstellung vom Tod hat nicht das schaurige Gesicht der Mausoleen und Säulenstümpfe in Frankreich; die Grabmäler gleichen bezaubernden Cottages, auf denen das Leben geruhsam und verlockend dahinfließt. Dieses eigentümliche Gefühl erfüllte Jacques, und er begriff, warum Miss Amelia sie ganz einfach und wie selbstverständlich in diesen hinreißenden Park geführt hatte.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Ein Familientreffen
Bei ihrer Rückkehr trafen die Besucher Mister B. und den Reverend, Mister S., im Salon an. Mister B. empfing sie mit herzlicher Würde und redete in ihrer Muttersprache zu ihnen, die er mit gemessener Langsamkeit gebrauchte; mit seinen stillen und vornehmen Umgangsformen machte er den Eindruck, der beste Mensch der Welt zu sein. Jacques suchte vergebens nach dem schottischen Plaid und dem Kilt, Mister B. trug ganz einfach einen schwarzen Frack.
Reverend S., ein katholischer Priester, schien ein Freund des Hauses zu sein; sein sanftes und gütiges Gesicht, seine tiefgründigen und leidenschaftlichen Augen, sein zurückhaltendes und bescheidenes Auftreten machten ihn zu einem vollendeten Beispiel des englischen Klerikers. Was für ein Unterschied zu jenen presbyterianischen Geistlichen, halb Priester, halb Kaufleute, die sich den Spekulationen des Handels und dem Heil der Seelen verschrieben haben und unter denen die englischen Missionare in den Kolonien die empörendsten Ausgeburten sind!
Mister S. war viel in Europa herumgekommen; als zeitweiliger Gast in Rom, Wien, Paris besaß er zuverlässige Kenntnisse und sprach ein ausgezeichnetes, akzentfreies Französisch; er leitete eine nicht besonders große Pfarrgemeinde in der Grafschaft Fife.
Als das Abendessen serviert war, begaben sich alle in den Speisesaal im ersten Stock. Beim Eintreten war Jacques von seinem strengen und imposanten Aussehen überrascht:
Er glaubte, einen jener weitläufigen mittelalterlichen Säle vor sich zu sehen, in denen die Familie einst unter dem feierlichen Vorsitz des Vaters ihre Mahlzeiten einnahm; es herrschte eine fast religiöse Stille, und die dunklen Farben der Wandbehänge und Möbel machten diesen
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