Reise ohne Wiederkehr
individuelle Erfahrung von Heimweh und Entwurzelung sein konnte. Umso wichtiger waren Kontakte zu Verwandten und Freunden, die entweder noch bzw. weiterhin in Deutschland lebten oder |48| ebenfalls geflohen waren, auch wenn der Briefverkehr mit dem Krieg und der Zensur immer komplizierter wurde. Die in Palästina vorhandene Kaffeehauskultur fehlte vielen derjenigen Intellektuellen, die in die USA geflohen waren. Einige von ihnen teilten Vorurteile gegenüber der amerikanischen Massenkultur, und ihre Einsamkeit und Arbeitslosigkeit im Exil trug dazu bei, solche Vorstellungen zu verfestigen. Wie Alfred Döblin (geboren 1878 in Stettin, gestorben 1957 in Emmendingen) aus Kalifornien an einen Freund schrieb:
[I]ch sitze hier in einer Hollywood-Zweigstelle der Los Angeles public library und schmökere in Büchern und beschnüffle die Zeitschriften. Das ist [,] was man am Nachmittag statt eines Cafés hat. Ich pendele täglich von 3-5 mit beinah astronomischer Exaktheit hin und habe so ein bisschen meinen Tag komplettiert. Denn was soll man bloß in dieser Steppe mit Drugstores und Buden, die sich Häuser nennen, tun? 8
Das Gefühl, nicht gebraucht und höchstens geduldet zu werden, konnte zu einer großen Belastung werden. Döblin, der im Exil nur ein Buch veröffentlichte und auf finanzielle Unterstützung von wohltätigen |49| Organisationen angewiesen war, meinte sogar, letztlich könne der Exilant nur wählen „zwischen der sichtbaren Zelle, die ihm sein Heimatland reserviert, und der unsichtbaren, mit der das Asylland aufwartet“. 9
Alfred Döblin
In der Weimarer Zeit arbeitete Alfred Döblin als Psychiater und Schriftsteller in Berlin. Nach einer expressionistischen Phase wurde er 1929 mit seinem Roman Berlin Alexanderplatz, einem der wichtigsten Werke des Realismus, berühmt. Einen Tag nach dem Reichstagsbrand floh er über Zürich nach Frankreich, 1940 weiter in die USA. Sein Sohn Wolfgang, der als Soldat in der französischen Armee kämpfte, beging auf der Flucht vor den Deutschen Selbstmord; davon erfuhr die Familie allerdings erst 1945. Nachdem Döblin schon 1912 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten war, konvertierten er und seine Familie 1941 zum Katholizismus – eine Entscheidung, die viele Mitexilanten als Affront empfanden, was Döblins soziale Isolation verstärkte.
Die Wahrnehmung des Exils als Gefängnis kannten viele Flüchtlinge – eine verständliche Perspektive, aber auch eine, die es noch schwieriger machte, im Gastland Fuß zu fassen und über die Erschütterungen der Vertreibung und Flucht hinwegzukommen. Vor diesem Hintergrund hielten sich etliche Exilanten an der Hoffnung fest, möglichst bald den Zusammenbruch des NS-Regimes zu erleben und damit den Ausnahmezustand des eigenen Lebens zu beenden. Der Schriftsteller René Schickele (geboren 1883 in Obernai, Elsass, gestorben 1940 in Vence, Südfrankreich) schrieb dazu:
Was mich aufrecht hält, ist die Zuversicht, das schäbigste aller Raubtiere, den preußischen Adler, im Hühnerstall wiederzusehn, so gerupft, so zahm, dass er Schalom [sic] Asch aus der Hand frisst. 10
Allerdings starb Schickele 1940 und konnte das Ende des Nationalsozialismus nicht mehr erleben.
Clubs, Vereine und Zirkel
Eine Möglichkeit, mit der Fremdheit im Exil umzugehen, war das gesellschaftliche Engagement, das sich oft in Exilantenkreisen abspielte. Es entstanden Hunderte von Clubs, Vereinen und Zirkeln, die sich karitativen, sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Anliegen widmeten. Senioren, Kinder, Jugendliche und Frauen hatten ihre eigenen Gruppen, ebenso Exilanten aus bestimmten Regionen des Herkunftslandes und unterschiedlicher religiöser und politischer Überzeugungen. In London entstand beispielsweise die Freie Deutsche Hochschule (FDH), ein Ableger des Freien Deutschen Kulturbundes, einer 1939 gegründeten, linksgerichteten Einrichtung, in der prominente Exilanten wie Alfred Kerr (geboren 1867 in Wroclaw, gestorben |50| 1948 in Hamburg) und Oskar Kokoschka (geboren 1886 in Pöchlarn, Niederösterreich, gestorben 1980 in Montreux am Genfer See) aktiv waren. Der Kulturbund hatte eine wissenschaftliche Sektion, aus der 1942 die FDH hervorging. Finanziert wurde sie über Mitgliedsbeiträge und Spenden.
In enger Zusammenarbeit mit der britischen Association of Scientific Workers, die sich für emigrierte Wissenschaftler einsetzte, formulierte die Freie Deutsche Hochschule vier Ziele: Sie wollte erstens die Tradition der
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