Reise ohne Wiederkehr
waren, hielt ein Exilant in einer Beobachtung über sein Adressbuch fest, das er 1934 aus Deutschland mitgenommen und seitdem weitergeführt hatte. In diesem Adressbuch „spiegelt sich mir die Weltgeschichte alltäglich“, notierte er.
Kaum eine Adresse ist noch dieselbe, nahe Freunde und entfernte Bekannte sind in die ganze Welt zerstreut, und dem Ausfall des größten Teils der früheren Korrespondenten entsprechen die neu hinzugekommenen Namen aus der Emigration. Aus Deutschland kommen fast nur noch Briefe von den allernächsten Verwandten meiner Frau, alle übrigen schreiben nun aus England und Amerika, aus der Türkei und Palästina, aus der Schweiz und Holland, Kolumbien, Australien und Neuseeland – nach Japan. 17
Selbst heutzutage, da es viel einfacher geworden ist, durch die Welt zu reisen, wirkt dieses Netz an Kontakten erstaunlich global.
Die biographische Erfahrung der Exilanten war Ausdruck dessen, welche dramatischen Effekte der Nationalismus auf Individuen und Gesellschaften haben konnte. Trotz aller patriotischen Empfindungen und Anhänglichkeiten an die frühere Heimat brachte das Exil einige Flüchtlinge dazu, sich von der Überhöhung der eigenen Nation |129| zu distanzieren und sich als Weltbürger zu definieren. Damit wendeten sie die Ausbürgerung und Staatenlosigkeit ins Positive. Thomas Mann etwa stellte 1941 fest:
Das Exil ist etwas ganz anderes geworden, als es in früheren Zeiten war. Es ist kein Wartezustand, den man auf Heimkehr abstellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nation an und auf die Vereinheitlichung der Welt. Alles Nationale ist längst Provinz geworden. 18
Selbstverständlich konnte es sich nur eine Minderheit der Exilanten leisten, das eigene Schicksal auf diese Weise zu idealisieren. Die meisten hatten mit schwerwiegenden alltäglichen und persönlichen Problemen zu kämpfen, die nicht dazu ermutigten, dem Exil irgendeinen höheren Sinn zu verleihen und das eigene Erleben im Interesse übernationaler Ziele zu relativieren. Doch man würde der Erfahrung des Exils und dem Leben der Exilanten nicht gerecht, wenn man sie auf ihre Opferrolle reduzierte. Viele eigneten sich im Exil Fähigkeiten an, die weit über jene hinausreichten, die für das praktische Überleben notwendig waren. Eine von ihnen war die Fähigkeit, das Leben in und mit zwei Kulturen zu meistern. Damit einher ging (nicht notwendig, aber doch häufig) ein geweiteter Blick auf das scheinbar „Normale“ des nationalen Staates, der nationalen Traditionen, und letztlich auch der Heimat.
Im heutigen Europa ist der aggressive Nationalismus weitgehend überwunden, die demokratische Ordnung stabilisiert, der Schutz des Individuums vor Verfolgung gesichert. Doch in anderen Teilen der Welt gehört politische, ethnische und kulturelle Unterdrückung zum Alltag, und täglich gehen Menschen unter bedrohlichen Umständen ins Exil. Darauf hinzuweisen bedeutet nicht, die Erfahrung der deutschsprachigen Exilanten zu relativieren. Individuelle Erfahrung ist letztlich immer absolut und lässt sich in ihrer erlebten Dramatik nicht durch historische Vergleiche mildern. Doch es wäre unzutreffend, das Problem des Exils als abgeschlossen zu betrachten, weil die |130| europäischen Diktaturen glücklicherweise der Vergangenheit angehören. Dennoch soll am Schluss der Erfahrungsbericht einer Schriftstellerin stehen, der das Exilschicksal versöhnlich deuten lässt. Die Autorin war 1939 als Zwölfjährige mit ihrer Familie aus Köln nach England geflohen. Dort hatte sie sich schnell eingefunden und in kürzester Zeit die englische Sprache gelernt; nach den bedrängenden letzten Jahren in Deutschland fühlte sie sich in Großbritannien bald zu Hause. Später heiratete sie einen Inder und ging mit ihm nach Delhi. Anfangs war sie fasziniert von der Vielfalt der indischen Kultur, fand es dann aber zunehmend schwierig, ihre europäische Identität aufrechtzuerhalten. Schließlich wurde ihr Heimweh nach Europa so groß, dass sie Mitte der Sechzigerjahre beschloss, Indien zu verlassen. Aber anstatt nach London, Paris oder Berlin zu gehen, zog sie nach New York. Es sei die europäischste Stadt, die sie sich vorstellen könne, sagte sie ihren verwunderten Verwandten und Bekannten. Mehr noch:
Hier traf ich jene Menschen, die in meinem Leben hätten bleiben sollen – Menschen wie jene, mit denen ich in Köln zur Schule gegangen bin, mit genau dem gleichen Hintergrund wie ich, der gleichen Herkunft, der gleichen Abstammung.
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