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Reise zu Lena

Reise zu Lena

Titel: Reise zu Lena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Neven DuMont
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einmal hinein!
    Man sollte auch für andere Menschen Verständnis zeigen, auch und gerade für die eigene Mutter, und nicht nur selbstsüchtig auf sich selbst beharren. Ein bisschen Mitleid . . .<
    In dem Augenblick flog die Serviette, wie von selbst, über den Tisch und traf sie mitten ins Gesicht: >Du bist nicht meine Mutter!<
    Ob sie es gehört hatte oder nicht, jedenfalls streifte sie gelassen die Serviette von ihrem Gesicht und lachte schallend durch den Raum, sie konnte sich gar nicht beruhigen. Ich war so verdattert, dass ich kein Wort mehr herausbekam, sie hatte mich mit ihrem gellenden Gelächter völlig aus der Fassung gebracht. Als die Frau sich erhob, um den Tisch herumkam, sich neben mich auf die Bank setzte und ihren Arm liebevoll um meine Schulter legte, war ich unfähig mich zu wehren.
    >Wie ich Dich verstehe, mein Liebes! Ich verstehe Dich mit jeder Faser meines Körpers. Die Geschichte mit der Serviette gerade, es war, als wenn Du mich nachahmen würdest: Auch in Kleinigkeiten bist Du ganz wie Deine Mutter. Aber jetzt hör gut zu: Zugegeben, ich habe damals einen Riesenfehler gemacht, als ich Dich nach langen inneren Kämpfen zur Adoption freigab. Mein großer Traum, Primaballerina zu werden, was ist daraus geworden? Ein Jahr, nachdem ich Dich weggegeben hatte, bin ich schwer krank geworden: Die Nieren! Ich kann Dir sagen, die grässlichsten Schmerzen. Ich habe mich gewunden, laut geschrien. Es half nichts:
    Meine Karriere war zu Ende. Später durfte ich noch einige Jahre für einen Hungerlohn in der dritten Reihe links in einer Revue meine Beine schwingen. Und dann . . . ach, das wollte ich Dir gar nicht erzählen: In einem Kabarett, so eine Art Striptease. Nun, was man damals Striptease nannte. Ein Höschen blieb natürlich an, meine Figur war vor allem oben herum noch tipptopp. Nein, mehr hätte ich auf keinen Fall gemacht. Lieber wäre ich verhungert. Dein Vater, der Dandy, immer aufs Feinste ausgestattet, war natürlich damals schon über alle Berge. Es gab nichts mehr zu holen. Als Du zur Welt kamst, war er es ja, der zuerst von Adoption sprach. Er war verheiratet und durfte wegen seiner Familie sich nicht scheiden lassen: alle streng katholisch. Ein uneheliches Kind kam für ihn nicht in Frage. Das konnte er seinen Eltern nicht antun. Er war auf mich schon ärgerlich genug, dass ich ihm meine Schwangerschaft verheimlicht hatte. Verzeih mir, mein Liebes, verzeih . . . Es war ein schweres Leben, aber jetzt habe ich ja Dich.<
    Ihre Stimme war weich geworden. Sie legte ihren Kopf an meine Seite und streichelte meine Hände. Ich war von ihrer Geschichte, die einer Beichte gleichkam, so sehr benommen, dass auch ich sie näher zu mir heranzog und mir die Tränen in die Augen stiegen, ich weiß nicht, wie es dazu kam: Aufjeden Fall stammelte ich: >Mutter, Mutter!<
    Dann lagen wir glücklich vereint uns in den Armen.
    Als ich nach Hause kam und Mutter Lena sah, hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen. Was hatte ich getan! Aber sie wollte nichts wissen. Als ich die Wohnungstür hinter mir schloss, stand sie gleich da und umarmte mich wortlos. Sie hatte schon die ganze Zeit auf mich gewartet.
    Die Frau sollte ich, so war es verabredet, am nächsten Tag wiedersehen, aber es kam nicht dazu. Sie musste mir aus einem dringenden Grund absagen. Ihre Stimme, als ich am Telefon mit ihr sprach, erschien verändert, nervös, gehetzt. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen, sie zog mich geradezu magisch an. Ich musste sie wiedersehen, denn mit Schrecken aber auch mit einer unfassbaren Freude sollte ich erkennen, dass diese Frau mir ähnlicher war als irgendjemand sonst auf der Welt. Ich fühlte mich ertappt. In all ihren Gefühlsregungen, ihrer Sprunghaftigkeit, ihrer wachen Intelligenz fand ich mich wie in einem Zerrspiegel wieder. Dann wieder musste ich Seiten bei ihr erkennen, die mich zutiefst erschreckten und über die ich mir nicht im Klaren werden wollte, die mich in Furcht versetzten. Würde ich eines Tages auch so enden? Ich hatte angefangen, diese Frau zu lieben und zugleich zu hassen. Und das Äußere? Vieles hatten wir gemeinsam, kein Zweifel. Ich glaubte, jeder auf der Straße würde mich als ihre Tochter erkennen, was bei Lena niemals der Fall war. Aber zugleich schämte ich mich, ja, es überfiel mich eine Scham, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. So war ich betroffen und unglücklich, sie nicht gleich am nächsten Tag wiederzusehen und zugleich wie befreit. Wir hatten vereinbart, sehr bald wegen

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