Reise zu Lena
Beisammensein nach dem, was ich gerade erlebt hatte, als außerordentlich wohltuend. Als habe sich das alles so meilenweit entfernt von allem abgespielt, auf einem anderen Kontinent. Ann musste gespürt haben, wie glücklich ich mit ihr war, wie ich sie geradezu anhimmelte. Nein, sie wollte mich auf keinen Fall in meiner schlechten Verfassung ziehen lassen.
Wir hatten begonnen, Schach zu spielen, das mir noch Vater beigebracht hatte. Mutter Ann war ich jedoch nicht gewachsen, ich war schon zufrieden, eine Zeit lang mithalten zu können. Als dann Glorie hereinwirbelte, lobte Ann das schöne Beisammensein mit mir, das interessante Gespräch, das spannende Schachspiel und überhaupt sei sie froh, mich einmal richtig kennengelernt zu haben.
Ja, so meinte Ann, ich und sie hätten bei der Gelegenheit eine echte Freundschaft geschlossen.
Zu Hause grüßte ich Lena wie immer, verhielt mich so, als ob ich von dem Geschehen auf der anderen Straßenseite nichts mitbekommen hätte. Auch die folgenden Tage wagte ich nicht, sie zu fragen, was sich auf der Straße abgespielt hatte, ich wollte den mühsam hergestellten Frieden zwischen uns nicht aufs Spiel setzen. Ich hatte sowieso genug mit mir selbst zu tun. Vor allem ließ mich die Frage nicht in Ruhe: Wer war der Mann, der das Kuvert mit dem Geld genommen hatte? Dass es sich um Geld gehandelt hatte, war für mich längst Gewissheit geworden. Und warum diese zweifelhafte Übergabe? Fragen über Fragen: Warum schoss mir durch den Kopf, dass der Mann auf der Straße mein Vater wäre, mein leibhaftiger Vater? War das die Stimme des Blutes? Auf der anderen Seite entsprach die Erscheinung des Unbekannten genau der Beschreibung der Frau. Ich grübelte darüber nach, wie ich Genaueres über den Mann herausfinden könnte, ohne Lena zu beschweren. Sie hatte, das war längst klar geworden, genug gelitten. Aber wer auch immer der Mann gewesen war, ich wollte ihn niemals wiedersehen. Niemals. Genauso wenig die Frau. Unsere Begegnung erschien mir nachträglich wie ein Alpdruck.
Ich sehnte mich nach Vater zurück. Zum ersten Mal nach seinem Tod. Er, das wusste ich, hätte Rat gewusst und mich und Mutter aus dem Strudel, der uns ergriffen hatte, herausgezogen. Aber er lebte nicht mehr.
So kam nur ein Mensch in Frage, in mein Vertrauen gezogen zu werden, und das war Glorie, meine liebste Freundin. Hatten wir doch auch sonst keine Geheimnisse voreinander. Es fügte sich, dass ihre Eltern ein verlängertes Wochenende am Meer verbringen wollten, zu dem sie mich einluden. Lena hatte keine Bedenken, im Gegenteil, sie willigte sofort ein, da sie meinte, ich könnte die Abwechslung gut gebrauchen. Uns standen zwei gemütliche Hütten in den Dünen zur Verfügung, von denen eine Glorie und mir gehörte. Wir lagen bis spät in der Nacht noch im warmen Sand, schauten zum Sternenhimmel empor und hörten das Rauschen des Meeres. Ich nutzte die Stunde und vertraute Glorie meine Erlebnisse der letzten Tage an, von Anfang bis Ende. So sehr ich mich auch schämte.
Denn nach meinem Geständnis kam ich mir richtig nackt vor. Aber ich fühlte mich viel besser, eine Last war von mir gefallen. Die Nacht verbrachten wir eng umschlungen. Am nächsten Morgen gelobte mir Glorie völlige Verschwiegenheit, sie wollte sogar darauf schwören. Sie riet mir, nachdem sie sich alles noch einmal durch den Kopf hatte gehen lassen, die Frau, den fremden Mann und die Geschichte mit dem Kuvert zu vergessen, aus dem Kopf zu schlagen. Vor allem dürfte ich Lena nichts vorwerfen. Am besten vergessen! Ich bedankte mich bei Glorie mit Küssen, wobei mir die Tränen kamen und sie mich gerührt in die Arme nahm. Alle ihre Ratschläge wollte ich befolgen, mit einer Ausnahme: Die Frage nach dem fremden Mann konnte nicht unbeantwortet bleiben: Wer war er? Ich musste es wissen.
Das Leben mit Lena war nicht mehr dasselbe wie zuvor. Wir gaben uns zwar Mühe, die alte Vertrautheit wieder herzustellen, aber es wollte uns nicht gelingen. Sie blieb verschlossen, melancholisch, als ob ihr Lebenswillen einen Sprung erhalten hatte. Aber am schlimmsten war: Wir konnten nicht miteinander sprechen, die Tür zwischen uns blieb verriegelt.
Kurze Zeit später war ich wegen einer routinemäßigen Untersuchung bei unserem Doktor in seiner Praxis. Als ich mein Kleid wieder übergestreift hatte und ihm vor seinem Schreibtisch gegenübersaß, fragte er mich:
>Nun, Christie, sonst noch was? Hast Du noch etwas auf dem Herzen?<
Er musterte mich aufmerksam
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