Reise zu Lena
eines neuen Treffens zu telefonieren.
Dazu kam es aber nicht mehr, wir sollten uns nie wiedersehen. Die Frau, die meine Mutter war, und ich. Nie wieder, wenn man von dem Vorgang, der sich vor meinen Augen auf der Straße abspielte und den ich zufällig aus dem Fenster unserer Wohnung beobachtete, absieht. Ja, der reine Zufall war es, der mich dazu brachte, diese schreckliche Szene, die mich ins Herz stechen sollte, mitzuerleben. Es fielen Unterrichtsstunden aus, deswegen kam ich wesentlich früher als sonst nach Hause. Lena sah ich nicht in der Wohnung, es war lange vor Mittag. Da ich mir etwas zu trinken holen wollte, ging ich durchs Wohnzimmer und warf, wie so oft im Vorbeigehen, einen flüchtigen Blick durch das Fenster auf die Straße. Gebannt blieb ich stehen: Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, genau dort, wo wir vor Tagen zum ersten Mal die Frau stehen sahen, erblickte ich Lena, die Frau und einen Unbekannten. Sie waren offensichtlich alle drei ziemlich erregt, wie man unschwer aus ihren Gesten und der Lautstärke, wie sie aufeinander einredeten, erkennen konnte. Lena war außer sich, empört. Die Frau hielt sich, was aus der Entfernung auszumachen war, ziemlich zurück, nur wenige Male sprach sie auf die beiden anderen ein, dann zog sie sich einige Schritte zurück, als ob sie mit dem Geschehen nichts zu tun haben wollte. Die Hauptperson in der Debatte schien der mir unbekannte Mann zu sein, er war schlank, hoch gewachsen, trug einen eleganten Anzug und hatte einen Schnurrbart. Mit erhobenem Zeigefinger redete er laut auf Lena ein.
Mein erster Gedanke war, hinunter auf die Straße zulaufen, um Lena beizustehen, als ich sah, wie sie aus ihrer Handtasche ein größeres Kuvert zog, kurz noch einmal einen Blick in das Innere warf, bevor sie ihn dem Mann, der blitzschnell zugriff, übergab. Der Mann nahm sich alle Zeit, um gemächlich die Scheine, die sich offensichtlich darin befanden, zu zählen. Dann nickte er gnädig, steckte den Umschlag in seine Jackentasche, hob seine Hand mit einer spöttischen Geste Lena entgegen und machte dabei eine tiefe Verbeugung. Lena hatte sich abrupt abgewandt, die Frau ging einige Schritte hinter ihr her, versuchte mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es schien, als wollte sie dem Ende des Treffens einen versöhnlichen Abschluss geben, was ihr aber misslang. Lena überquerte erhobenen Hauptes, nicht nach rechts oder links blickend, die Straße. Jetzt erst sah ich, dass unser Doktor die Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte, er trat an die Seite von Lena, um mit ihr an unserem Haus vorbei weiterzugehen.
Die Gedanken schossen mir durch den Kopf: Welchen Handel war Lena eingegangen? War Geld übergeben worden? Alles sprach dafür. Warum hatte Lena die beiden bezahlt und wofür? War ich die Ware? Steckte sie mit ihnen unter einer Decke? Was galt es zu verbergen? Warum hatte sie mich nicht ins Vertrauen gezogen?
Und wer war der fremde Mann, der das Geld entgegengenommen hatte? Es durchfuhr mich! Mein Vater? War das mein Vater?!
Wie vor wenigen Tagen rannte ich wieder Hals über Kopf aus der Wohnung hinüber zu Glorie. Als ich unser Café an der Straßenecke passierte, sah ich durchs Fenster Lena im Gespräch mit dem Doktor, der beruhigend auf sie einsprach. Sie bemerkten mich nicht. Gott sei Dank! Ich wäre unfähig gewesen, mit ihnen zu reden. Wem konnte ich noch vertrauen, schoss es mir durch den Kopf, als ich durch die Straßen rannte. Ich floh vor mir selbst, eine Flucht nach vorn in eine andere Existenz, in ein anderes Leben, das ich für mich gefunden, ja erfunden hatte: zu Glorie.
Glorie war nicht zu Hause. Als ich schon umkehren wollte, hielt mich Glories Mutter fest und fragte mich, ob ich mit ihr eine Tasse Tee trinken wolle. Mein verwirrter Zustand war ihr nicht entgangen. Das Haus war wohltuend still, und auch von Ann ging eine angenehm ruhige und gelassene Ausstrahlung aus, die mir gut tat. Alles, was sie sagte, schien mir so überlegt und ausgewogen. Sie erkundigte sich ausgiebig nach mir, erzählte ihrerseits, dass Glorie heute mit ihrem Vater einen Ausflug aufs Land unternahm. Sie wollten irgendwelche alten Kirchen besuchen oder ein Kloster, so genau wusste Ann es auch nicht. Ich war das erste Mal mit ihr allein und genoss es, von dieser klugen, vornehmen Dame wie eine Erwachsene behandelt zu werden. Unser Gespräch zog sich hin und in dem Maße, wie ich von ihr ins Vertrauen gezogen wurde, ging ich immer mehr auf sie ein. Ich empfand unser
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